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ergehen

In der Literaturtheorie ist schon häufig ein enges Verhältnis zwischen dem Schreiben und dem Gehen behauptet worden. Paul Nizon hat in seiner Vorlesung Am Schreiben gehen mit Recht von einer literarischen Grundfigur gesprochen. Diese Grundfigur hat oft einen metaphorischen Charakter. Das Gehen wird zu einer Metapher des Schreibens. Wie beim Gehen auf nicht immer schon ausgetretenen Wegen treibt die Sprache das literarische Schreiben voran, und wie beim Gehen wird unversehens abgebogen, in nicht vorhersehbare Richtungen.

Wenn aber Thomas Bernhard im Roman Gehen seinen Protagonisten sagen lässt: „Gehen und Denken stehen in einem ununterbrochenen Vertrauensverhältnis zueinander. Die Wissenschaft des Gehens und die Wissenschaft des Denkens sind im Grunde genommen eine einzige Wissenschaft“, dann ist mit Gehen mehr als eine Metapher des Schreibens gemeint. Für die großen Gehenden der Gegenwartsliteratur, wie Peter Handke oder Peter Weiss, ist das Gehen eine Methode der Erkenntnis. Damit ist nicht bloß gemeint, dass man, wie zum Beispiel Johann Gottfried Seume, der 1802 seinen Spaziergang nach Syrakus absolviert hat, immerhin eine Fußreise, die in Leipzig ihren Anfang nahm, im Gehen genau das sieht, woran alle anderen Reisenden vorbeifahren. Bei Handke dagegen, und er dient hier nur als Beispiel, schreibt sich aus der Bewegung des Gehens heraus eine Welt. Vom jeweils begangenen und geschriebenen Ort aus umgreift der Weg den Raum und den Rhythmus, die Gegenwart und die Geschichte. Wer sich mitten auf dem Weg befindet, für den ist sein gerade begangener und geschriebener Ort dann nicht nur in Raum und Zeit platziert, sondern zugleich qualifiziert, das heißt mit der gesehenen und gedachten, erfahrenen und geschriebenen Bewegung selbst aufgeladen.

Das Teilprojekt Ergehen geht dem Vertrauensverhältnis von Gehen und Denken nicht nur theoretisch nach, sondern will seine konkrete Erprobung darstellen und in ihren Konsequenzen für das Thema Erkenntnis durch Kunst reflektieren. Die empirische Basis dafür liefern mehrere Reise- Wander- Lesebücher, an denen Wilhelm Berger mitgearbeitet hat: (gem. mit Gerhard Pilgram) Das Weite suchen. Zu Fuß von Kärnten nach Triest, Klagenfurt (Verlag Carinthia) 2006 (256 Seiten); (gem. mit Gerhard Pilgram, Werner Koroschitz, Annemarie Pilgram-Ribitsch): Die letzten Täler. Wandern und Einkehren in Friaul, Klagenfurt (Drava-Verlag) 2008, (411 Seiten), 2. Auflage 2009, 3., aktualisierte Auflage 2011; (gem. mit Werner Koroschitz und Gerhard Pilgram) Tiefer Gehen, Klagenfurt (Drava-Verlag) 2011 (534 Seiten). Die Bücher wurden in zahlreichen Exkursionen mit zum Teil großen Gruppen vorgestellt, wobei künstlerische Interventionen eine große Rolle spielten. Welche Erfahrungen sind dabei möglich?

Wilhelm Berger

Die Wahrheit der Zäune

  

Zaunwelten

Wer heute an den Thujenhecken einer österreichischen Vorstadtsiedlung vorbeigeht, würde kaum glauben, dass Zäune als Idee und Artefakt ein biblisches Alter haben. Schon der Gott des alten Testaments, der die Welt in einem Akt der Teilung von Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Meer und Festland erschaffen hat, stellte Adam und dann Eva einen paradeisos zur Verfügung, einen eingefassten Garten. Später positionierte er davor „Kerubim und das lodernde Flammenschwert“, also bewaffnete geflügelte Wesen als lebenden Zaun, um Adam und Eva die Rückkehr zu verwehren. Und bereits in der zweiten Generation, bei den Kindern der beiden, kündigt sich die Spannung zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit an, in der Zäune eine weltgeschichtliche Rolle spielen werden: …mehr