Login
contact
imprint

zaunwelten

Wilhelm Berger

Die Wahrheit der Zäune

  

Zaunwelten

Wer heute an den Thujenhecken einer österreichischen Vorstadtsiedlung vorbeigeht, würde kaum glauben, dass Zäune als Idee und Artefakt ein biblisches Alter haben. Schon der Gott des alten Testaments, der die Welt in einem Akt der Teilung von Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Meer und Festland erschaffen hat, stellte Adam und dann Eva einen paradeisos zur Verfügung, einen eingefassten Garten. Später positionierte er davor „Kerubim und das lodernde Flammenschwert“, also bewaffnete geflügelte Wesen als lebenden Zaun, um Adam und Eva die Rückkehr zu verwehren. Und bereits in der zweiten Generation, bei den Kindern der beiden, kündigt sich die Spannung zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit an, in der Zäune eine weltgeschichtliche Rolle spielen werden: Abel war Hirte, also ein Nomade, und er wird von seinem Bruder, dem Ackerbauern Kain getötet, dessen Opfer Gott verschmäht hat. Dass Kain („rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein“) nun selbst von seinem Land vertrieben wird, aber dennoch unter dem göttlichen Schutz verbleibt („soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen“), deutet vielleicht auf die göttliche Ambivalenz  in der Angelegenheit dieser Spannung.

Die Spannung zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit ist nicht nur eine von unterschiedlichen Lebensweisen, sondern eine von unterschiedlichen Welten. Die nomadische Welt ist ein Bewegungsraum, idealer Weise ein schrankenloser Raum wie die Wüste, die Steppe oder das Meer, ein glatter Raum, dessen Abstände und Relationen erst durch Bewegungen hergestellt werden, die sich als Spuren einschreiben, wieder verschwinden und von anderen Spuren überschrieben werden. So sehen es jedenfalls „postmoderne“ Philosophen wie Vilém Flusser oder Gilles Deleuze, die auch ein nomadisches Denken propagieren. Die Sesshaften dagegen betrachten die Welt als Territorium. Primär ist nicht die Bewegung, sondern Terra, die Erde, der Boden als Fläche des je eigenen Sitzens und Gehens, ein gegliederter, gekerbter, metrischer Raum der Aufteilungen und Begrenzungen.

Kain hat sich wieder niedergelassen, und die Sesshaftigkeit hat das Nomadentum weitgehend verdrängt. Das Prinzip der Sesshaftigkeit ist die Inbesitznahme, also letztlich der Primat des Privateigentums über das Gemeingut. Jean-Jacques Rousseau hat in seiner Abhandlung über Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) weniger einen tatsächlichen Vorgang als das Befremdliche und Ungeheuerliche des Gedankens festgehalten, man könne den Boden, auf dem notgedrungen alle stehen, leben und sich bewegen, also das Gemeingut schlechthin, in privates Eigentum nehmen. Zäune spielen dabei die zentrale Rolle: „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen ‚Dies gehört mir’ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wären dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen gehören, aber die Erde niemandem’“. Noch heute sind das so genannte Jedermannsrecht in den skandinavischen Ländern, das deutsche Betretungsrecht oder die österreichische Wegefreiheit, die den freien Zugang zu unbewohnten oder nicht landwirtschaftlich genutzten Flächen regeln, eher Ausnahmen. Das wissen zum Beispiel alle, die versucht haben, in England eine längere Wanderung zu absolvieren.

Inzwischen ist die Idee des Zäunens so sehr Bestandteil der Gewohnheit und Normalität geworden, dass sie in einem von Heidi Howcroft 1993 herausgegebenen Band über Hecken und Zäune, Gitter und Mauern als anthropologische Konstante bezeichnet werden kann, die sogar dem Kommunismus, einem anderen Experten des Einzäunens, seine historischen Grenzen gezeigt hat: „Grenzen setzen (…) hat sich gegen alle Versuche ideologischer oder politischer Art mit dem Ziel, das Gemeinschaftliche als das allein Gültige einzuführen, durchgesetzt. Die Idee der Datscha hat gewisser Maßen den Kommunismus besiegt.“ Hier erscheint der Zaun als ein Produkt der natürlichen Ausstattung des Menschen, in dem seine Verwandtschaft mit den ihr Territorium markierenden Tieren zum Ausdruck kommt.

Wenn der Begriff „Weltbild“ im Sinne von Ludwig Wittgenstein den Hintergrund bezeichnet, vor dem wir alle Wirklichkeit wahrnehmen, dann gehören Zäune zwar nicht zu unserer natürlichen Ausstattung, aber doch zum Kernbestand des abendländischen Weltbilds. Das war eine der Thesen des ebenso einflussreichen wie problematischen Rechtsphilosophen Carl Schmitt. Gegen den späteren Einspruch von Philologen leitete er das griechische Wort nomos für Gesetz vom Wort nemein her, das „Teilen“ oder „Weiden“ bedeutet. Nach dieser Gleichsetzung konnte er in seinem Werk Nomos der Erde (1950) schreiben: „Nomos ist das den Grund und Boden der Erde in einer bestimmten Ordnung einteilende und verortende Maß und die damit gegebene Gestalt der politischen, sozialen und religiösen Ordnung. Maß, Ordnung und Gestalt bilden hier eine raumhaft konkrete Einheit. In der Landnahme, in der Gründung einer Stadt oder einer Kolonie wird der Nomos sichtbar, mit dem ein Stamm oder eine Gefolgschaft oder ein Volk seßhaft wird, d.h. sich geschichtlich verortet und ein Stück Erde zum Kraftfeld einer Ordnung erhebt. (…) Insbesondere kann der Nomos als eine Mauer bezeichnet werden, weil auch die Mauer auf sakralen Ortungen beruht“.

Schmitt galt als einer der Kronjuristen des Dritten Reichs und hat nicht zufällig die Landnahme als expansive konzipiert. Dennoch bringt er hier ein kulturelles Muster auf eine Formel, das bereits der vorsokratische Philosoph Heraklit gesehen hat, als er das Volk aufrief, zu „kämpfen um sein Gesetz wie um seine Mauer“. Der Zaun, die Mauer grenzt ein Inneres von einem Äußeren ab, und erst diese Abgrenzung ermöglicht im Inneren eine konkrete Einheit, in die sich Ordnung, Maß und Recht einschreiben können. Und das gilt dann für das Denken genauso wie für das Soziale und die Politik.

 

Zäune im Denken

Was das Denken betrifft, meinte schon Aristoteles, dass nur Begrenztes auch erkannt werden könne. Es scheint einleuchtend, dass ein Gegenstand nur dann von einem anderen unterschieden werden kann, wenn eine Grenze beide voneinander trennt. Aristoteles hat diese scheinbare Selbstverständlichkeit auf die Regeln des Denkens, auf die Logik, übertragen und dabei auch ihre Voraussetzungen sichtbar gemacht. Seine Grundprinzipien, der Satz der Identität („Alles Wahre muss mit sich selbst nach allen Seiten in Übereinstimmung sein“), der Satz des verbotenen Widerspruchs („Es ist unmöglich, dass demselben dasselbe und in derselben Hinsicht zugleich zukomme und nicht zukomme“) und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten („Zwischen Widersprechendem gibt es kein Mittleres“) sind Axiome eines Denkens der Eindeutigkeit, der Widerspruchslosigkeit und des klaren Unterschieds zwischen Ja und Nein.

Soll dieses Denken funktionieren, hat es einen homogenen „Denkraum“ zur Voraussetzung. Die Begriffe besetzen gewissermaßen eine Fläche, und wo A auf dieser Fläche situiert ist, kann nicht gleichzeitig B gedacht werden. Schon in der frühen Antike, zum Beispiel für den vorsokratischen Denker Parmenides, war klar, dass dieser „Denkraum“ begrenzt, gewissermaßen umzäunt sein muss, oder anders ausgedrückt: dass die Idee des Grenzenlosen und Unendlichen den „Denkraum“ sprengen würde. So erlaubt Aristoteles das Unendliche nur als prinzipielle Möglichkeit, einer gegebenen Menge von Elementen immer noch ein weiteres hinzuzufügen. Das Unendliche ist nur potenziell. Dazu hat der Herätiker schlechthin, Giordano Bruno, die radikalste Gegenposition bezogen. Mit dem Beginn der Neuzeit öffnet sich die geschlossene, umzäunte und von einem transzendenten Gott im Raum und in der Zeit gehaltene Welt, und ein unendliches Universum wird denkbar. Giordano Bruno denkt es in aller Konsequenz: Der unendliche Raum ist kein Behälter, sondern er besteht selber aus unendlich vielen Welten, und auch die Zeit kennt keinen fixen Schöpfungsakt am Anfang und  kein Ende, also keine Grenze mehr. Das ewige Universum ist selbst schöpferisch,  es ist die ständige Verwirklichung unendlich vieler Möglichkeiten. Diese radikale und unerschöpfliche Grenzenlosigkeit muss alle Eindeutigkeit und Widerspruchslosigkeit sprengen. Von deren Hüterin, der katholischen Kirche, ist Giordano Bruno 1600 verbrannt worden. Seine Statue am campo de’ fiori in Rom, dem Ort seiner Verbrennung, blickt auf den palazzo della cancelleria, dem Sitz des höchsten kirchlichen Gerichts, das nach wie vor über die Rechte des transzendenten Gottes wacht.

Aristoteles hat sich die Welt selber nach den Regeln eines eingezäunten Denkens vorgestellt. Wenn er als Beispiel anführt: „Denn Dreiruderer, Mauer, Mensch würden dasselbe sein, wenn man von jedem Ding bejahend oder verneinend aussagen kann“, so setzt er die logischen Prinzipien und die Wirklichkeit in ein gleichwertiges Verhältnis. Die Logik bestätigt die Wirklichkeit und die Wirklichkeit bestätigt die Logik. Und insofern uns der Satz, dass etwas in einer Hinsicht immer nur eines und nicht gleichzeitig ein anderes sein kann, unmittelbar einleuchtet, weil es auch in der Wirklichkeit scheinbar  evident ist, dass zum Beispiel dort, wo ein Tempel steht, nicht gleichzeitig eine Kirche sein kann, bedarf diese Übertragung keiner weiteren Begründung.

Die Übertragung der aristotelischen Prinzipien auf die Wirklichkeit, also die Konstruktion einer Welt der Eindeutigkeit, der Widerspruchslosigkeit und des klaren Unterschieds zwischen Ja und Nein, hat wesentlich zur Entwicklung der abendländischen Wissenschaft und Technologie und damit zum Sieg des abendländischen Weltbilds in der technologischen Zivilisation der Gegenwart beigetragen. Allerdings kennen wir heute eine Reihe von Logiken, in denen der Satz des ausgeschlossenen Dritten nicht gilt. Wie zum Beispiel die dreiwertige Logik des Philosophen Gotthard Günther wurden sie oft als Reaktion auf Probleme innerhalb der technologischen Zivilisation entwickelt. Die am meisten problematische Konsequenz der aristotelischen Übertragung hält aber zum Beispiel schon Friedrich Schillers Wallenstein fest, wenn er („mit finstern Stirnfalten“) sagt: „Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen, wo eines Platz nimmt, muss das Andre rücken, wer nicht vertrieben sein will, muss vertreiben, da herrscht der Streit, und nur die Stärke siegt.“

 

Der umzäunte Staat

Wie zutreffend diese Analyse ist, zeigt auf politischer Ebene die Geschichte des Nationalstaats. Klassisch ist der Staat als Einheit der drei Faktoren Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt definiert. Aber schon für die reflektierteren  Protagonisten des europäischen Nationalstaatsgedankens war die Konstruiertheit dieser Einheit klar. Für Friedrich Ratzel, der 1897 ein Buch mit dem Titel Politische Geographie geschrieben und damit eine gleichnamige Wissenschaftstradition begründet hat, ist das „stofflich Zusammenhängende am Staat (…) nur der Boden“, die Einheit des Bodens aber ein „geistiger Zusammenhang“, also eine kulturelle Konstruktion. Der geistige Zusammenhang kann sich also nur vom Staatsvolk und der Staatsgewalt her aufbauen.

Aber das Staatsvolk hat große Probleme, zu sagen, was denn nun wirklich zum Beispiel das spezifisch Italienische an den Italienern wäre, um einen der jüngeren europäischen Nationalstaaten als Exempel heranzuziehen. Ihre Bräuche? Die sind von Nord nach Süd äußerst unterschiedlich. Dante Aligheri? Der hat sich allenfalls als Florentiner gefühlt. Ihre Sprache? Die gesprochenen Dialekte sind so verschieden, dass 1861, im Jahr der Staatsgründung, nur 2,5% des Staatsvolks fähig waren, sich im Hochitalienischen auszudrücken. Das war das Italienisch der kultivierten Leute aus Florenz. Und noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts beherrschten nur 50% der Bevölkerung das Hochitalienische. Und ihre gemeinsame Geschichte? Es hat keinen Sinn von Italienern zu sprechen, wenn sich zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt niemand als solcher fühlt und bezeichnet. Alle Ereignisse vor dem Prozess der Nationswerdung sind jedenfalls nicht im Namen der zu ihrer Zeit noch gar nicht existierenden Nation geschehen.

In seiner Studie Die Erfindung der Nation (1993) bezeichnet Benedict Anderson daher die Nationen als „vorgestellte Gemeinschaften“. Mit dem Konzept der Nation wird einerseits die Gemeinschaft, also das konkrete Zusammensein, die konkrete Ähnlichkeit von Personen behauptet. Die Nation ist, so Anderson, als Gemeinschaft gedacht, weil sie, „unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung, als ‚kameradschaftlicher‘ Verbund von Gleichen verstanden wird.“ Andererseits ist die Gemeinschaft vorgestellt, „weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen (…) werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.“ Dass die Nation einerseits  eine Vorstellung und andererseits eine Realität darstellt, ist die für sie charakteristische Spannung.

Als dritte wesentliche Eigenschaft der Nationen nennt Anderson ihre Begrenztheit, „weil selbst die größte von ihnen (…) in genau bestimmten, wenn auch variablen Grenzen lebt, jenseits derer andere Nationen liegen. (…) Selbst die glühendsten Nationalisten träumen nicht von dem Tag, da alle Mitglieder der menschlichen Rasse ihrer Nation angehören werden“. An diesem Punkt kann mit Carl Schmitt über Anderson hinausgegangen werden: Es ist der gedachte und reale Zaun, der immer wieder neu die Vorstellung in eine Realität überführt. Die klare Unterscheidung zwischen Innen und Außen erzeugt die vorgestellte Gemeinschaft. In seinem Buch Der schwarze Jäger. Denkformen und Gesellschaftsformen in der griechischen Antike (1989) zeigt Pierre Vidal-Naquet für die griechische Antike, wie sehr die kulturelle und politische Einheit des jeweiligen Stadtvolkes und der Status und die Identität des Bürgers durch die Anwesenheit und gleichzeitige Ausgrenzung der Barbaren und der Sklaven bestimmt sind. Im 19. Jahrhundert gilt: Deutsch soll sein, wer kein Franzose, kein Engländer usw. ist. Die Geschichte der Nationen erscheint plötzlich als Entfaltungsgeschichte dieser Unterscheidungen.

Aber schon die frühen Protagonisten der Nationalisierung haben gewusst, dass die Unterscheidung zwischen Innen und Außen im Inneren nur eine abstrakte, inhaltsleere Nation hervorbringen kann. Auch die Entwicklung einer Nationalkultur integriert nur eine bestimmte Schicht. Die Volkskultur, ihre Trachten und Tänze, erscheint angesichts der übergroßen Vorstellung, die mit der Nation verbunden ist, als lächerlich und harmlos. Die inhaltsleere Nation muss daher immer wieder aufs Neue konkretisiert, und das heißt hier: mit Blut versorgt werden. Das bringt das Kärntner Heimatlied in aller analytischen Klarheit zum Ausdruck: „Wo man mit Blut die Grenze schrieb“, das heißt: Wessen Angehörige oder Kameraden im Namen einer Nation gefallen oder ermordet worden sind, weiß nun in einem tieferen Sinne, wo er hingehört.

 

Die Ambivalenz des Zaunes

Der Zaun schließt ein und schließt aus, schützt und wehrt ab. Dass aber das Innere nicht ruhig umzäunt bleiben kann, sondern der aktiven Abgrenzung bedarf, um so sein zu können, wie es ist, radikalisiert diese Ambivalenz des Zaunes. Der Zaun ist nicht nur dem Inneren zugekehrt, sondern weist aus sich heraus auf das, was jenseits liegt. Seine zwiespältige Rolle besteht darin, das Innere mit dem Außen im selben Akt zusammenzuschließen, in dem er beide von einander trennt.

Die Faszination dieser Ambivalenz kennen alle, die als Kinder sehnsüchtig durch ein Loch im Holzzaun zum Beispiel auf das rätselhafte Durcheinander eines Lagerplatzes geblickt haben. Das Unheimliche dieser Ambivalenz hat Sigmund Freud in seinem berühmten Essay Das Unheimliche (1919) angesprochen. Etymologisch bedeutete heimelig, also zum Haus, zum Inneren gehörig, einmal auch heimlich. Daran anschließend bestimmt Freud das Unheimliche nicht als das Gegenteil des Heimeligen, also als das Außen, sondern als den Schrecken darüber, dass inmitten des Heimeligen etwas Heimliches, im Inneren also sein eignes Außen zu Tage tritt. Das Heimliche ist bei Freud nun all das, dessen Verdrängung notwendig ist, um das Heimelige zu ermöglichen. Die Verdrängung ist niemals abgeschlossen, sondern ein dynamischer Prozess, der stets scheitern kann. Das Scheitern ist dann das Erscheinen des Unheimlichen, von dem das Heimelige wie ein Schatten begleitet wird.

Die Eigenschaften, die Freud diesem Schatten, dem Unbewussten, zuordnet, sind genau das Gegenteil der aristotelischen Prinzipien: Verschiedenes besteht nebeneinander und geht ineinander über, der Satz der Identität ist außer Kraft. Das findet ein plastisches Bild, wenn Freud im Text Das Unbehagen in der Kultur (1929) die Seele mit der Stadt Rom vergleicht. Wäre die Seele diese Stadt, dann würde gelten: „…auf dem Pantheonplatz fänden wir nicht nur das heutige Pantheon, wie es uns von Hadrian hinterlassen wurde, sondern auf demselben Grund auch den ursprünglichen Bau des M. Agrippa; ja, derselbe Boden trüge die Kirche Maria sopra Minerva und den alten Tempel, über den sie gebaut ist.“ Und auch der Alltag widerlegt oft genug die aristotelische Evidenz: Was dort geschieht, geschieht ja immer im Kontext aller anderen und wird von der jeweiligen Position in diesem Kontext aus gesehen. Und weil es nur für den Totalitarismus Sinn hat, hinter dieser alltäglichen Relativität eine für alle verbindliche Wahrheit anzusetzen, kann etwas für die einen durchaus ein Tempel, für die anderen eine Kirche sein.

Auf wissenschaftlicher und politischer Ebene ist es längst klar, dass die Welt des eingezäunten Denkens, die Welt der Eindeutigkeit, der Widerspruchslosigkeit und des klaren Unterschieds zwischen Ja und Nein ihr eigenes Gegenteil, die Ambivalenz, stets mitproduziert. Hier ist ein von Jürgen Mittelstraß wieder aufgegriffenes Bild von Blaise Pascal prominent geworden, der die Sphäre des geordneten und gesicherten Wissens mit einer Kugel vergleicht, die im Meer des Nichtwissens schwimmt, in der Sphäre der Unordnung und Ambivalenz: Die Berührungsfläche mit dieser Sphäre wird umso größer, je mehr sich die Kugel vergrößert. Für Zygmund Bauman in seinem Buch Moderne und Ambivalenz (1992) gilt dies grundsätzlich: Sowohl der wissenschaftliche als auch der politische Versuch, die Welt in Eindeutigkeit zu überführen, wird immer nur neue Ambivalenzen hervorbringen und schließlich in den totalitären Versuch münden, das Prinzip der Ambivalenz selber zu vernichten.

Diese Einsichten verweisen auf die Notwendigkeit, auch die Realität des Zauns als dynamische zu konzipieren. Dass der Zaun als Idee und Artefakt nur dort existieren kann, wo es etwas aus- oder einzuschließen gilt, scheint eine triviale Aussage zu sein. Eine Konsequenz daraus ist aber schon komplexer: Die Möglichkeit, ihn zu übersteigen und zu durchbrechen, ist nicht die Negation des Zaunes, sondern gehört zu seiner Wirklichkeit dazu. Dass es sich hier um keine abgehobene Spekulation handelt, wird klar, wenn man sich die komplexe Funktion des Zaunes an den Außengrenzen der europäischen Union vor Augen hält. Er soll illegale Einwanderer abwehren. Wer aber über ihn hinweg in das Innere gelangt, hat im Akt des Überstiegs oder Durchbruchs seine Identität geändert. Der Zaun als Idee und Artefakt ist die Linie, an der diese Transformation stattfindet: Aus einem gerade noch mit minimalen Rechten ausgestatteten Menschen wird ein nacktes Leben, das zum  Beispiel als Arbeitssklave in den Gemüseplantagen des italienischen Südens bereits erwartet wird, ein Sklave, der auf Grund gesetzlicher Vorkehrungen weder polizeiliche noch gerichtliche, weder soziale noch medizinische Hilfe in Anspruch nehmen kann. In einem anderen Kontext, nämlich auf die Frage eines Forschungsprojekts zur Transformation von Grenzen innerhalb der europäischen Union, sagt ein Grenzbeamter: „Dadurch, dass ich hier stehe, mache ich das Geschäft der organisierten Kriminalität erst lukrativ“.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade der italienische Philosoph Giorgio Agamben ein aktuelles Grundlagenwerk über den Ausnahmezustand (2004) geschrieben hat, den er in der staatswissenschaftlichen Tradition als eine Suspendierung der Rechtsordnung definiert, die zugleich in der Rechtsordnung enthalten ist, als eine Schwelle, an der sich das Innen und das Außen der Rechtsordnung berühren. Das Konzentrationslager ist für Agamben die Verräumlichung des Ausnahmezustands, ein umzäunter Raum außerhalb des Rechtes, aber innerhalb des Territoriums, in dem die Rechtsordnung gilt. Für die Gegenwart analysiert Agamben die Vervielfältigung solcher Räume und spitzt seine Analyse zu zwei radikalen Aussagen zu: Er analysiert das Lager als „verborgenes Paradigma des politischen Raumes der Moderne“ und kommt zum Schluss: „Der Ausnahmezustand hat heute seine weltweit größte Ausbreitung erreicht.“

 

Raumrevolution

Vor diesem Hintergrund werden die radikalen Konsequenzen sichtbar, die heute aus einer Feststellung zu ziehen wären, die Michel Foucault in seinem Essay Andere Räume bereits 1967 getroffen hat. Er meint dort, dass „die heutige Unruhe grundlegend den Raum betrifft“, also das Nebeneinander und Auseinander, das Miteinander und das Gegeneinander, und diese Unruhe sei Folge einer Transformation, die er Raumrevolution nennt. Wir leben nicht mehr  „…in einer Leere, innerhalb derer man Individuen und Dinge einfach situieren kann. (…) Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind.“

Es scheint so, als ob sich im Zuge dieser Raumrevolution das Nomadische wieder gegen das Sesshafte durchzusetzen beginnt. Beziehungen werden bei Foucault als dynamische Vorgänge gefasst. Die Gemengelage ist ein Resultat der Vorgänge, das sich ständig verändert. Die Beziehungen definieren kurzfristige Platzierungen. Also ist ein Boden immer erst und immer wieder neu das Produkt dieser Vorgänge. Eine Raumrevolution im Sinne von Foucault wurde auch von den Apologeten des Internet freudig begrüßt. So setzte Marshall McLuhan 1962 ein neues Schlagwort in die Welt: Das Internet werde alle sozialen und politischen Grenzen überwinden und die ganze Welt zu einem global village machen: „Wir leben in einer brandneuen Welt der Gleichzeitigkeit. Die Zeit hat aufgehört, der Raum ist dahingeschwunden, Wir leben in einem globalen Dorf (…) in einem gleichzeitigen Happening“, heißt es in seinem mit Quentin Fiore verfassten Werk Das Medium ist Message.

Heute weiß man, dass die Kritiker von McLuhan Recht behalten haben. Das weltumspannende Gemenge von Beziehungen ist durchsetzt von virtuellen und realen, technisch hoch entwickelten Zäunen. Die chinesische Regierung ist mit der Zensur des Internet erfolgreich. Hoch komplex sind die Überwachungstechnologien, die an jenen Linien und Punkten, zu denen sich die Grenzen innerhalb des Schengenraums vervielfältigt haben, Unerwünschte und Unerwünschtes aus den Menschen- und Warenströmen aussortieren, ohne deren Geschwindigkeit zu bremsen. Im städtischen Alltag, in dem sie das Leben von Bewohnern sortieren, sind sie so unauffällig oder unsichtbar und zugleich so effektiv wie die Begrenzungen der herrschaftlichen Gärten des 17. Jahrhunderts. Jene gated community, in die im mexikanischen Film La Zona (2007, Regie Rodrigo Plà) nach dem Ausfall der Überwachungsanlagen drei Jugendliche eindringen, eine ältere Frau erschießen und dann selbst von den Bewohnern des sauberen, selbst verwalteten Gemeinwesens gejagt werden, erscheint im Vergleich dazu wie ein vorindustrielles Relikt.

 

Aufbruch

Die Möglichkeit, ihn zu übersteigen und zu durchbrechen, ist zugleich eine Aufforderung des Zaunes zum Aufbruch. Das historische Beispiel dafür ist die Berliner Mauer. In ihr kam die Ambivalenz des Zaunes zu exemplarischer Geltung. Sie war dem Inneren zugekehrt, indem sie einen ganzen Staat sicherte und versperrte. Als Kulminationslinie aller Sehnsüchte der Eingezäunten wies sie aus sich heraus auf das, was jenseits lag und sich erst nach ihrem Fall als Wunschbild entzaubert hat.

Als die Mauer 1989 fiel, war die wesentliche Bewegungsform das Gehen. Einmal deshalb, weil in Leipzig und anderen Städten Menschen auf die Straße gingen, und zum anderen in einem Sinne, der 1989 zu einem besonderen historischen Ereignis macht: Die DDR ist wohl der erste Staat, der dadurch an ein Ende gekommen ist, dass seine Einwohner in großer Zahl aufgebrochen und weggegangen sind, zuerst über die ungarisch-österreichische Grenze und die Mauern der Botschaften der BRD in Prag und Warschau, dann, nach Günter Schabowskis verunglückter Pressekonferenz, im Massenansturm durch die notgedrungen geöffnete Berliner Mauer hindurch.

Liegt im Inneren des Umzäunten eine mögliche Heimat, so liegt in seinem Außen das Exil. Der jüdische Denker Maurice Blanchot hat in seinem Buch Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz (1955) versucht, dem Wort Jude jenseits aller negativen Zuschreibungen (nicht nur des Antisemitismus, sondern auch seiner Kritiker, die mit dem Wort immer Unglück und Unbehagen verbinden) einen positiven Sinn zu geben. Dieser positive Sinn heißt Aufbruch. Abraham bricht auf. Das Ziel seines Aufbruchs ist das Exil: Die Wahrheit des Exils ist es, dass es „jede feste Beziehung der Macht mit einem Individuum, einer Gruppe oder einem Staat zerstört“, schreibt Blanchot, und er fährt an anderer Stelle fort: „…als Fährmann fordert uns der Hebräer Abraham nicht nur auf, von einem Ufer zum anderen hinüberzuwechseln, sondern uns überall dorthin zu begeben, wo ein Übergang zu vollziehen ist, und dieses zwischen-zwei-Ufern aufrechtzuerhalten, das die Wahrheit des Übergangs ist.“

Der Figur dieses Aufbruchs, dieses Anfangens, entspricht im Denken und in der sozialen Realität ein offener Raum der Relationen, die sich verteilen. Damit klagt der Aufbruch das Recht ein, alle Zäune in Frage zu stellen. Aber die Wahrheit des Zaunes ist, im Anschluss an Maurice Blanchot, gerade seine Ambivalenz, die einen Übergang, einen Aufenthalt zwischen zwei Ufern ermöglicht. Dadurch, dass der Zaun zusammenschließt, was er trennt, ist, wer ihn übersteigt, nicht mehr bei sich, sondern im Außen, und gibt sich als Fremder preis, ohne seine Herkunft zu verleugnen.