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elfie miklautz: unverfügbar

Spielräume des Unverfügbaren: Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern

Klassische Musiker sind mit zahlreichen Verhaltenserwartungen konfrontiert: überzeugendes Auftreten, originelles Repertoire, virtuoses ‚Beherrschen‘ ihres Metiers, interpretatorisches Raffinement, Unverwechselbarkeit – und dies unter strikter Einhaltung des von den Institutionen des Kulturbetriebs vorgegebenen engen Rahmens. Sich diesen Anforderungen zu entziehen vermag nur, wer bereits etabliert ist. Musiker, deren Haltung durch Zurückhaltung gekennzeichnet ist, die minimieren statt maximieren, sind eine paradoxe Erscheinung im Kulturbetrieb, in dem alles auf Superlative hin ausgerichtet ist. Mein Beitrag stellt Figuren des Sich-Entziehens von Musikern vor und zielt darauf ab, zu zeigen, dass diese trotz differenten Äußerungsformen und Motivlagen tiefenstrukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Das Sich-Zurücknehmen, so die These, manifestiert sich nicht als Mangel, sondern fungiert als Bedingung der Möglichkeit, Spielräume des Unverfügbaren zu eröffnen.
Im Rahmen

Aufführungen klassischer musikalischer Werke sind hochritualisierte Ereignisse, das Verhalten der beteiligten Akteure – Ausführende auf der einen, Zuhörende auf der anderen Seite – unterliegt strengen Normierungen. Die gegenwärtige Art der Darbietung von Musik im Konzertsaal mit allen damit verbundenen Spezifika ist eine historisch spät entwickelte Form, zu der vielfältige Alternativen existierten. Im Verhaltensrepertoire ausführender Musiker finden sich daher auch noch Relikte aus historisch anders gearteten Konstellationen. Es reicht vom ehemals bei Hof Bediensteten, nunmehr verbeamteten, sein ‚Handwerk‘ beflissen ausführenden Musiker über den ganz im Dienst des Werks stehenden Vermittler bis hin zum verehrungswürdigen genialen Virtuosen. Das Auftreten von Musikern bedarf jedenfalls einer ‚Haltung‘, die Resultat einer mehr oder weniger bewussten Orientierung ist. Die Zuhörer dagegen sind vergleichsweise restringiert in ihren Möglichkeiten. Sie beschränken sich auf in sich gekehrtes Zuhören in erstarrter Körperhaltung, achtsam jedes Geräusch ebenso vermeidend wie mimische, gestische oder gar den ganzen Körper einbeziehende Formen der bewegten Anteilnahme. Zuhören – und dies war nicht immer so – ist ein ganz im Inneren angesiedeltes Geschehen, bei dem jede nach außen wahrnehmbar werdende Reaktion peinlichst zu vermeiden ist. Bewegtheit und Enthusiasmus sind erst am Schluss der Darbietung angemessen und beschränken sich auf Klatschen, mitunter – bei besonderer Ergriffenheit – stehend und von einzelnen Ausrufen begleitet. Die grundsätzlich erwünschte Haltung, so scheint es, ist die der Zurückhaltung. Die Erwartungen an die ausführenden Künstler sind eher gegenteilig. Nur Orchestermusiker stehen nicht unter dem Druck, Bühnenpräsenz zu vermitteln und explizit zu zeigen, was sie tun. Solisten und Dirigenten sind auch als Darsteller, Schausteller, Schauspieler gefordert, die neben der Aufführung des Werks auch aufzuführen haben, was sie da vollziehen. Sie vermitteln zwischen Werk und Rezipienten, erläutern, weisen auf Spezifika hin und treten so in eine Beziehung zu den Zuhörenden.

Wie mit den Anforderungen des Konzertbetriebs umgegangen wird, ist höchst unterschiedlich und abhängig vom Selbstverständnis des Musikers als Musiker. Eine mögliche Haltung, die im Folgenden erörtert wird, ist die der Zurückhaltung. Es handelt sich dabei um eine Gegen-Haltung, weil eigentlich sich entäußert werden soll, in den Vordergrund gerückt – gefordert ist nicht Zurück-, sondern Auftreten. Solches Auftrittsverhalten ist Resultat jahrelangen Trainings, überwundener Krisen, der Kontrolle zahlreicher Verhaltensparameter, fallweise begleitet von psychologischen Interventionen, mitunter gestützt von durchaus merkwürdig anmutenden einstimmenden Ritualen zur Konzentrationssteigerung und Angstabwehr.

Den Musikern steht innerhalb der durch die Konzertsituation gegebenen Reglementierungen ein Repertoire von Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung, aus dem sie ihrem Selbstverständnis gemäß ‚wählen‘ können. Der Terminus ‚Wahl‘ vermittelt kein ganz zutreffendes Bild, verbindet man doch damit gewöhnlich eine bewusst getroffene Entscheidung zwischen verfügbaren Alternativen, mehr noch: man denkt dabei auch an selbst entwickelte Verhaltensformen. Die soziale Realität des Musik‚betriebs‘ beinhaltet allerdings zahlreiche Prädeterminationen, die das Verhalten strukturieren. Der Rahmen der Möglichkeiten ist eng gesteckt. Insofern ist es wichtig, das Augenmerk nicht vornehmlich auf den individuellen Akteur zu legen, der in einem vermeintlichen Akt der Selbsterschaffung sich zu dem macht, was er ist, sondern ihn auch in seinem Gewordensein als Produkt der historisch spezifischen sozioökonomischen Produktionsbedingungen von Musik zu verstehen. Das heißt, ein Musiker ist gleichermaßen das Produkt des institutionalisierten Musikbetriebs, zu dem Ausbildungseinrichtungen, Konzertagenturen, Manager, Veranstalter, Labels, Medien, Kritiker und Technologie gehören, wie seines Talents und disziplinierten Arbeitens. In Anlehnung an Pierre Bourdieu kann man Musiker als Akteure in einem sozialen Feld verstehen, dessen Spielregeln gekannt und anerkannt sein wollen, wenn man sich darin erfolgreich etablieren möchte.[1] Erst Arrivierten werden Abweichungen zugestanden, die neu ins Feld Eintretenden haben wenig Spielraum, gilt es doch vorerst, überhaupt Zutritt zu erlangen, Fuß zu fassen und von den bereits im Feld Befindlichen wahr- und ernst genommen zu werden.

Der Eintrittspreis – die weitgehende Anerkennung dessen, was der Fall ist – ist hoch. Radikale Kritik am bestehenden Betrieb und von Standards abweichende Verhaltensformen sind jedenfalls keine vielversprechenden Maßnahmen, um die Zugehörigkeit zum Feld sicherzustellen. Der Dirigent, der sich bescheiden in den Hintergrund rückt, wird ebenso erfolglos bleiben wie jener, der unübliche Probenbedingungen fordert; der Solist, der Auftritte kurzfristig absagt, der Orchestermusiker, der eigene Interpretationsvorstellungen realisiert wissen möchte – sie alle werden wenig Chancen haben, die Zugangsbarrieren zu überwinden. Erst wer sich durchgesetzt hat, einen Namen erlangt hat, begehrt ist – profan gesprochen: wer bereits einen hohen Marktwert hat –, hat Spielräume und Wahlmöglichkeiten. Das heißt nicht, dass das Bedürfnis nach Abweichung erst mit erlangter Zugehörigkeit entstehen würde, es ist jedoch nur eingeschränkt in Handeln umsetzbar, weil Affirmationserfordernis und Abgrenzungswunsch in ständiger Balance gehalten werden müssen. Um sich vom ‚Betrieb‘ distanzieren zu können, muss man erst mal drin sein. Wer keine Konzertauftritte bekommt, dessen Abstinenz vom Konzertbetrieb wird als Haltung weder registriert noch diskutiert; wer keine Verträge mit Tonträger-Produzenten hat, dessen wie gut auch immer begründete Ablehnung von Tonaufnahmen wird niemandem auffallen; wer als Dirigent nicht von wichtigen Orchestern nachgefragt wird, dessen Perfektionismus, Auftrittsscheu oder Repertoirebeschränkung wird als mangelnde Begabung oder unakzeptables Verhalten angesehen. Insofern sind Figuren der Zurückhaltung, von denen im Folgenden die Rede sein soll, als wirksame und wirkmächtige, wahrgenommene und anerkannte vornehmlich bei arrivierten Musikern anzutreffen. Bei allen anderen haben bzw. hätten sie einen Ausschluss aus dem Feld zur Folge. Sich zurückhaltend zu verhalten kann natürlich auch als Strategie zur Erhöhung des Marktwerts eingesetzt werden oder zumindest diese Wirkung als ungeplante Handlungsfolge nach sich ziehen. Dies werde ich allerdings nicht berücksichtigen, sondern ausschließlich Musiker anführen, die diesbezüglich als authentisch und ‚wahrhaft‘ zurückhaltend zu bezeichnen sind.

Die angeführten Musiker haben jeweils bestimmte Formen des Sich-Entziehens entwickelt, die die Spannungsfelder von Nähe und Distanz, Einsamkeit und Soziabilität, Klang und Stille, ausgreifender oder verhaltener Expressivität berühren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ablehnen, was zum kollektiv geteilten Grundbestand des Musikbetriebs gehört. Sie widersprechen damit nicht nur dem common sense, sondern auch der feldspezifischen Logik: Keine Auftritte vor Publikum, keine Aufnahmen, keine Interviews, keine solistischen Darbietungen, keine Interpretation von Werken wären Beispiele dafür, die auch in entsprechend abgeschwächter Form, geringer dosiert auftreten. Sie lassen sich als Figuren der Vermeidung lesen.

 

Der Welt abhandengekommen

„Silence sounds.“
Henry David Thoreau

Profimusiker unterscheiden sich von Amateuren vor allem auch dadurch, dass sie für und vor anderen Musik machen und nicht in selbstgenügsamer Isolation nur für sich ‚spielen‘. Sie spielen eben nicht, sondern machen Ernst damit. Sich der Bühne zu entziehen und nicht vor Publikum aufzutreten – diese Form von Zurückhaltung widerspricht entschieden den mit dem Musikerdasein gesetzten Anforderungen. Glenn Gould hat diesen Schritt vollzogen und seine im Alter von 32 Jahren getätigte Ankündigung, keine Konzerte mehr zu geben, wahrgemacht. Nicht Selbstzweifel im Hinblick auf das eigene Können bewogen ihn zu diesem Schritt. Seine Abneigung richtete sich gegen eine Vielzahl von Charakteristika des öffentlichen Auftritts. So verabscheute er den Voyeurismus der Zuhörer, denen er Jagdinstinkte unterstellte, die sie auf Fehler lauern ließen. Das Publikum in seinen Bann zu ziehen, zu beherrschen, es in Spannung zu versetzen, es ‚in der Hand‘ oder, um mit Rubinstein zu sprechen, „seine Seele zu haben“ [2] – dieser Art von Macht konnte er ebenso wenig abgewinnen wie der Herausforderung, Höchstleistungen zu vollbringen, wie sie Zirkusartisten auszeichnet, deren mitunter misslingende Kunststücke veranschaulichen, wie riskant und schwer das scheinbar Mühelose eigentlich ist. Virtuosität war nichts, was ihm bedeutsam genug erschien, um sich der damit verbundenen Anstrengung auszusetzen. Am Klavierspielen fand er wenig Beeindruckendes, ja, er verachtete die physischen Anteile des Spiels und meinte, man könne es jedem in einer halben Stunde beibringen. Auch der in der Konzertsituation zum Vorschein kommende Wettbewerbsgeist war ihm zuwider wie jedes Sich-Messen unter widrigen Bedingungen. Seiner Ansicht nach haben die vermeintlichen Tugenden des Konzertpianisten weniger mit der Musik zu tun als „mit der Psychologie des ‚Vor-Angst-außer-sich-Seins‘ und des ‚Alles-auf-eine-Karte-Setzens‘“[3]. Warum, so meinte er, den Mount Everest erklimmen, wenn man kein Bedürfnis danach hat, und das auch noch vor tendenziell sadistisch gestimmten Zuschauermassen?

Das bislang Angeführte ist allerdings nicht erschöpfend, die Hintergründe für seine Ablehnung des Konzertierens liegen tiefer: Die Aversion war zum einen verankert in der individuellen Präferenz für eine Lebensform, die sich durch größtmögliche Absonderung und eine starke Neigung zur Kontrolle aller situativen Parameter auszeichnet. Beidem widerspricht der öffentliche Auftritt. Zum anderen beruhte sie auf Überzeugungen, die sein Selbstverständnis als Künstler betreffen und ästhetische ebenso wie ethische Grund-satzfragen tangieren. Persönliche Idiosynkrasien, exzentrische Verhaltensweisen und theoretische Konzepte über die Aufgabe der Kunst und deren verantwortliche Ausübung haben sich bei Gould – nicht mehr voneinander trennbar – zu einer ‚Haltung‘ amalgamiert, die unbeirrt von äußeren Einflüssen gelebt wurde. So verband sich etwa Goulds Vorliebe für abgeschiedene Aufenthaltsorte und seine die Nähe zu anderen Menschen vermeidende Lebensform mit der ‚Idee‘ des Nordens, der seiner Ansicht nach der Kontemplation und Zentriertheit auf die vornehmlich in der Vorstellung stattfindende Arbeit des Musikers förderlich ist. Das Bedürfnis nach Distanz von der Betriebsamkeit, die Scheu vor Berührungen, die Vorliebe für Gespräche am Telefon anstelle des face to face fanden ihr Pendant in einer die taktile Erfahrung des Klavierspiels über weite Strecken vermeidenden Arbeitsweise bei der Vorbereitung von aufzunehmenden Werken. Bei dieser Haltung handelte es sich nicht um eine Marotte, sondern eher um eine Äußerungsform dessen, was ich als ‚Schaffen von Bedingungen für die Emergenz von Unverfügbarem‘ bezeichnen möchte.

Gould war – um es mit einem Wort zu sagen – Platoniker. Er strebte nach dem Ideal, das sich mit weltlichen Mitteln nur annäherungsweise verwirklichen lässt. Jede Wiedergabe eines Werks ist ein Kompromiss und gewissermaßen nur eine Station auf der unabschließbaren Suche nach der weitestgehenden Annäherung an das Ideal. In dieser Perspektive mutet es nicht mehr merkwürdig an, dass das Klavier mitunter eher als Hindernis in den Weg tritt denn als Mittler. Aufgabe des Klavierspielers ist seiner Ansicht nach, dass dieses nicht als hinderlich wahrnehmbar wird – und zwar weder dem Spielenden noch dem Zuhörer. Und was könnte schlechter geeignet sein dazu, die Beschränkungen der physischen Mittel bei der Realisierung der Idee möglichst auszuschalten oder zumindest vergessen zu lassen, als die exponierte Extremsituation des Konzertauftritts – wenn der Annäherungsversuch zahlreichen, von außen kommenden, unkontrollierbaren Störfaktoren ausgesetzt ist? Auch das Aufnehmen des Werks vonseiten des Publikums ist in diesem Kontext erschwert. Stimmt meine Zuschreibung, wonach Gould ein Platoniker wäre – und seine Aussagen legen dies durchaus nahe –, geht es beim Rezipieren um mehr als um bloßes Zuhören. Mit Walter Benjamin formuliert käme es nämlich darauf an, sich des Spannungsverhältnisses zwischen der Idee des Kunstwerks und dem sinnlich Hörbaren innezuwerden, dessen also, was nicht gehört, sondern nur vernommen werden kann.[4] In diesem Sinne lässt sich auch Goulds selbstgestecktes Ziel interpretieren, wonach es darum geht, einen Zustand der Ekstase zu kultivieren, in dem sich Musik wie Musiker und Hörer eines Inneseins gewahrwerden, in das sie wie in ein Gewebe eingebunden sind.[5]

Aufgabe des Musikers ist es demnach nicht, den Zuhörenden einen interessanten, abwechslungsreichen Abend zu bieten, sie zu unterhalten, für sich einzunehmen oder was auch immer, sondern sozusagen gänzlich unbehelligt vom Ausführenden und dessen Beobachtern das Werk zum Erklingen zu bringen, und dafür gilt es, die optimalen Voraussetzungen zu schaffen. Das erste, was Gould diesbezüglich für unabdingbar hielt, ist eine analytische Herangehensweise. Das Werk muss gedanklich durchdrungen und verfügbar sein, und zwar unabhängig vom Instrument und dessen taktiler Bearbeitung. Das heißt, man muss dem Klavier so lang es geht fernbleiben, um eine von der Berührung unabhängige Begegnung mit der Musik zu ermöglichen. Die Annäherung an das Ideal wird, so Gould, „durch den Kompromiss der Berührung verringert“[6]. Die akribische Kontrolle von Körperhaltung, Anschlag, Klang, Dynamik etc. diente ihm vor allem dazu, die schädlichen Folgen des physischen Spiels zu mildern, das „Pianistische“ zu vermeiden, und der Vorstellung vom Werk nahezukommen. Klavier spielt man eben, um ein häufig zitiertes Diktum von Gould aufzugreifen, nicht mit den Fingern, sondern mit dem Kopf.

Analytische Klarheit und Erfassbarkeit der musikalischen Strukturen waren Goulds Gradmesser für eine erfolgreiche ‚Wieder‘-gabe eines Werks. Nicht nur die Eigenschaften des Instruments wurden darauf hin optimiert, sondern auch die Finessen der Aufnahmetechnik ausgeschöpft. Sein „Liebesverhältnis“[7] zum Mikrofon, das er dem zum Publikum bei weitem vorzog, ist legendär. Die Aufnahmetechnologie ist der Bereich, an dem neben ästhetischen auch moralische Gesichtspunkte bedeutsam werden. Gould argumentierte hier für eine moralische Verpflichtung, die mit der Technologie gegebenen Möglichkeiten der Verbesserung zu nutzen, und trat damit in Gegensatz zu all jenen, die Aufnahmen wenn nicht generell ablehnen, so doch nur als 1:1-Archivierung der stattgefundenen Werkwiedergabe gelten lassen wollen. Technische Eingriffe gelten ihnen als künstliche Zutat, als ‚entmenschend‘ und unredlich, weil sie die Einmaligkeit des stattgehabten Klangereignisses nicht wahren. Vor allem das nachträgliche Einfügen von Tonmaterial aus anderen Aufnahmesituationen wird als zerstörerisch erachtet, weil es angeblich die ‚große Linie‘ destruiere. Rubinstein etwa lehnte das „Zusammengestückte“ deswegen ab, weil es seiner Ansicht nach „keine Kunst mehr“ sei.[8] Der heroische Gestus des Hochleistungssportlers scheint für ihn zu den Bestimmungsmerkmalen von Kunst zu gehören, Hand in Hand mit der Vorstellung von einer Art unio mystica, in der Werk, Ausführende und Aufführungssituation miteinander vereint sind, die nicht zerleg- und neu zusammensetzbar ist, ja überhaupt keine technische Intervention verträgt, weil sich der Zauber, die Aura sonst offenbar verflüchtige. Gould dagegen tritt dafür ein, „schöpferisch unehrlich“[9] zu sein, um des besseren Ergebnisses willen. Technische Mittel vermögen seiner Ansicht nach musikalische Strukturen klarer hervortreten zu lassen, größere Ausgewogenheit zu erzeugen, den Klang zu transformieren und räumliche Eindrücke von Weite, Enge, Nähe und Ferne zu regulieren.

Schopenhauer war bekanntlich davon ausgegangen, dass Musik uns mit einer anderen Art von Wirklichkeit konfrontiert, weil sie aus einer Welt außerhalb der unseren kommt, die noch vor der durch das principium individuationis aufgesplitterten Vielfalt liegt und zeitlose Dauer aufweist. Musiker verschaffen uns den Zugang zu dieser Welt. Führt man den Gedanken weiter, kann man annehmen, dass es, um diese ‚Entrückung‘ zu erreichen, auch aufseiten der Musiker einer Entindividualisierung bedarf, einer Selbstzurücknahme, eines kontemplativen Aufgehens im Gegenstand, die die Subjekt-Objekt-Trennung unterläuft. Man darf meines Erachtens Gould eine Nähe zu dieser Sichtweise unterstellen. Er beließ es aber nicht bei der vertrauensvollen, durch akribische Vorbereitung als berechtigt gelten dürfenden Hoffnung auf mystische Erleuchtung, sondern nahm die Technik in den Dienst, die die Absonderung von der Welt und den Rückzug auf Vorstellungswelten zu unterstützen vermag, indem sie zusätzliche Anonymität und Verfremdungseffekte ermöglicht. In Anlehnung an den Theologen Jean Le Moyne sprach Gould von der „Barmherzigkeit der Maschine“, die zwischen „die Schwäche der Natur und die Vision der idealisierten Vollkommenheit“ tritt und zu kreativer Täuschung einlädt.[10] Dies als Form von Betrug abzulehnen, verkennt die Veränderungen, die sich mit der technischen Reproduzierbarkeit des musikalischen Kunstwerks vollzogen haben und hält stattdessen an falschen humanistischen Idealen fest, die menschliche Schwächen als nur über Glück oder göttliche Gnade ausgleichbar ansehen und die ehrenvoll auf sich genommene Mühsal beim Versuch, das Unerreichbare zu erlangen, über das Ergebnis stellen. Gould hatte dafür nur den lapidaren Vergleich mit dem Film zur Hand, bei dem auch niemand erwarte, dass er sich an die Grenzen des Bühnenhandwerks halte. Szenen mehrfach zu drehen, Schnitte und Überblendungen einzusetzen, dies fasste Gould analog zum Film auch bei Tonaufnahmen als entlastend und befreiend auf. Im Konzert dagegen gibt es kein Innehalten, um Take two anzukündigen und es neuerlich zu versuchen; man muss es nehmen wie es ist. Das heißt aber auch, dass man seine Version der Werkwiedergabe davor eineindeutig festgelegt haben muss und sich nicht situativ kreativ verhalten kann, weil man nicht weiß, ob das Ergebnis ‚stimmig‘ wäre. So besteht die Gefahr, dass der Auftritt im Konzert mechanischer abläuft als jede noch so technisch vermittelte Aufbereitung, weil man sich der Inspiration nicht überlassen kann.

Gould liebte aber gerade das Experimentieren mit unterschiedlichen Darstellungsweisen. Das Sich-nicht-festlegen-Müssen war ihm kreative Ressource, was zum obsessiven Kontrollbedürfnis in merkwürdigem Widerspruch steht und die Frage evoziert, ob man es mit einer skeptischen Haltung zu tun haben könnte. Er probierte viele Gestaltungsvarianten aus und entschied sich erst nachträglich für eine davon, für eine Kombination mehrerer oder für einen neuen Versuch. Nachträglich redigieren zu können, war ihm auch deshalb wichtig, weil er – so seine Beschreibung – am Beginn einer Sitzung nicht wisse, welche Konzeption er verfolge, weil diese sich erst am Weg bilde. Im Prozess Reflexionsschleifen einbauen zu können, erlebte er als Machtzuwachs, der den ausführenden Musiker dem Komponisten annähere. Die Aufzeichnung erlaubt das Überdenken im Nachhinein, ein, so Gould, „die Zeit transzendierender Luxus“, der ihm neue Sichtweisen eröffne. Kurz zusammengefasst: Die Technik des Tonstudios stellt dem Musiker einen Rückzugsort zur Verfügung, einen Schutzraum, der Anonymität zulässt und ihm die erforderliche Zeit und Freiheit gibt, um das Werk zu erarbeiten, „ohne sich über Trivialitäten wie Nerven oder Fingerfertigkeit Gedanken machen zu müssen“. Die Technik ermöglicht es, „jene scheußlichen, erniedrigenden und menschlich schädlichen Unsicherheiten auszuräumen, die das Konzert mit sich bringt; sie entfernt die Information über eine besondere persönliche Leistung aus der musikalischen Erfahrung. Ob der Künstler gerade bei dieser Gelegenheit den musikalischen Everest erklimmen wird, ist nicht länger von Belang.“[11]

 

Am Podium gestrandet

„Zur unwägbaren Evidenz gehören die Feinheiten des Blicks, der Gebärde, des Tons.“
Ludwig Wittgenstein

Martha Argerichs Art des Sich-Zurücknehmens nimmt andere Wege. Während Gould seine Auftritte als Konzertpianist gänzlich einstellte, verweigert Argerich lediglich die Solistenrolle. Sie tritt nur noch als Teil eines Ensembles auf. Gould suchte die Einsamkeit, Argerich flieht sie. Beiden gemeinsam ist die Wahrnehmung der Konzertsituation als unerträgliches Ausgesetztsein. Gould trat die Flucht nach vorne an, indem er offensiv behauptete, Konzerte überhaupt seien eine technisch überholte Form der Präsentation von Musik. Argerichs Fluchtbewegung wirkt im Vergleich dazu defensiver. Sie leitet aus ihrem Unbehagen keine Doktrin ab, sondern bleibt ‚bei sich‘, spricht offen über ihre Scheu vor Auftritten und vermittelt damit der Öffentlichkeit Einblick in die psychodynamischen Prozesse des Virtuosendaseins. Bedenkt man ihre Zurückhaltung den Medien gegenüber – Interviews verweigert sie größtenteils, weil als Nötigung zum Exhibitionismus empfunden; Situationen, in denen Medienkontakt unabwendbar ist, entzieht sie sich durch Verweis auf dringliche anderweitige Verpflichtungen und lässt sich bestenfalls wenige unergiebige Worte entlocken – ist diese Art von Selbstentblößung durchaus mutig. Sie verbirgt sich weder hinter Allgemeinplätzen noch hinter kühnen Thesen. Ungeschützt lässt sie uns von der für sie unerträglichen Einsamkeit des Pianistendaseins wissen. Bereits als Kind habe sie Auftritte gehasst, sich bei Abendeinladungen unter dem Tisch versteckt, während der ebenfalls anwesende Daniel Barenboim mit Freude sein Können am Instrument vorgeführt habe. Als Sechzehnjährige reiste sie von Auftritt zu Auftritt, verbrachte ihre Zeit einsam in Hotelzimmern und sehnte sich nach unbeschwerter Gemeinsamkeit mit Gleichaltrigen. Legendär ist die mitunter lange Wartezeit des Publikums vor Konzertbeginn, bis Argerich endlich – fallweise sforzato, handgreiflich atergiert – das Podium betritt. Bei einem Konzert in Wien soll sie, wie berichtet, den Gang auf die Bühne zunächst nur dazu genutzt haben, den Flügel einmal zu umrunden, um sich dann nochmals ins Künstlerzimmer zurückzuziehen. Die Widerstände, die sie zu überwinden hatte, scheinen enorm gewesen zu sein.

In einer Filmdokumentation, die Georges Gachot nach jahrelanger Hartnäckigkeit über sie drehen durfte[12], berichtet sie von autosuggestiven Maßnahmen vor Konzertbeginn: Kniend auf der Toilette eingesperrt habe sie sich als Kind gesagt, dass sie sterben müsse, wenn sie auch nur einen Ton falsch spiele. Das war ihre Art, Kontrolle über ihr Spiel zu erlangen. Glaubt man dem über sie Kolportierten, scheint sie nicht zu jenen Instrumentalisten zu gehören, die die Kontrolle über ihr Spiel so lange durch extensives Üben zu erlangen versuchen, bis jede einzelne Phrase unverrückbar ‚sitzt‘. Dies widerspräche im Übrigen auch ihrer Vorstellung von Lebendigkeit und Spontaneität, die eine in ihren Augen gelungene Aufführung eines Werkes erfordert. Sie spiele gerne Klavier, sei aber nicht gerne Pianistin, sagt sie, und verwendet den Terminus ‚Pianistin‘ dabei als Kürzel für eine Fülle von unliebsamen Zumutungen, die Klavierspielen als Beruf beinhaltet. Sie fühle sich gestrandet, wenn sie auf die Bühne komme und einsam wie nie, sagt sie, sie müsse sich exponieren, das Klavier erscheine ihr wie ein riesiger Berg (sic!), die Tasten wie ein Gebiss, das sie zu verschlingen drohe.

Das Bild, das diese Szenen entstehen lassen, steht im Widerspruch zu den Etikettierungen, die man ihr verliehen hat: Sie sei ein Naturtalent, wild, leidenschaftlich, unzivilisiert, raubtierhaft, das Instrument drohe unter ihrem kräftigen Zugriff zu zerbrechen, sie wische mit Leichtigkeit Stellen vom Tisch, die für andere Pianisten lebenslang unüberwindbar blieben etc. Die von ihr selbst angeführte scheue Zurückhaltung steht dazu in merkwürdigem Widerspruch. Wie ein Insekt unter der Lampe fühle sie sich, wenn sie alleine auftrete. Ihre Antwort auf das Unbehagen an der Konzertsituation besteht nicht im Rückzug ins Aufnahmestudio, denn auch dort wäre sie alleine. Anonymität und Isolation haben für sie keine kreativitätsfördernde, befreiende Wirkung. Ihr geht es darum, sich in Beziehung zu setzen – nicht zur anonymen Masse des Publikums, sondern zu Weggefährten, zu Bundesgenossen im Sich-Erschließen des Raums der Musik. Seit Jahren tritt sie nicht mehr solistisch auf, sondern in kammermusikalischen Formationen. Sie spielt mit Freunden, ehemaligen Lebenspartnern, Verwandten, Nachwuchsmusikern, die in den Kreis der Freunde aufgenommen werden.

Sie hat ein eigenes Kammermusikfestival gegründet, das jährlich mehrwöchig in Lugano stattfindet und sich durch ebendiese amikale Atmosphäre auszeichnet, in der kein Raum für konkurrenzistisches Gebaren und eitle Selbstdarstellung ist. Auch der Abstand zwischen Musikern und Publikum ist minimiert, alle scheinen Teil des Geschehens zu sein, hören einander gegenseitig zu. Beob-achtet man Argerich, wenn sie selbst als Zuhörende im Saal ist, fällt auf, dass sie mit jeder Phrase mitgeht, ihr nicht nur mimisch sondern auch gestisch Ausdruck verleiht, als wäre sie selbst eine der Aufführenden. Sie vollzieht das Geschehen mit und lässt es nicht neben sich ablaufen. Ich hatte Goulds Haltung als Musiker als platonisch bezeichnet; bei Argerich bin ich dazu geneigt, sie mimetisch zu nennen. Damit meine ich nicht, dass ihr Zugang zur Musik sich darin erschöpfen würde oder ihre intellektuelle Leistung demgegenüber geringer zu veranschlagen wäre. Was ich damit sagen will, ist vielmehr, dass meiner Ansicht nach Mimesis ihre stärkste energetische Antriebsquelle zu sein scheint, ihr Reservoir, aus dem sie schöpft, das sie unvergleichbar macht. Und um diese Fähigkeit schöpferisch nutzbar zu machen, braucht es andere Rahmenbedingungen, als sie der individualistisch-elitistisch ausgerichtete Konzertbetrieb für Solisten bietet. Dem hat sie sich entzogen. Ihr Sich-Zurücknehmen betrifft die Rollenattribute der gefeierten Starpianistin, die sie ihrer Kreativität berauben.

Während Gould den Eindruck erweckt, dass Musik möglichst wenig von Körperlichkeit und Soziabilität kontaminiert und behindert werden sollte, scheint Musik bei Argerich ein eminent sinnliches, körperbezogenes Geschehen zu sein. Sie verkörpert Musik, ist ihr Medium. Im Spiel findet eine Anverwandlung statt, bei der sie sich nicht nur zurücknimmt, sondern sich auf- und hingibt im Vollzug. Und dieses Geschehen ist ein mit-zu-teilendes, das deshalb auch einen sozialen Bezugsrahmen braucht, in dem es sich ereignet. Selbst die Art, wie sie sich zu Komponisten, deren Werke sie spielt, ins Verhältnis setzt, basiert auf Beziehungslogik. Sie spricht davon, dass Schumann sie möge – „ich habe etwas mit Schumann … irgendwie … ich fühle mich sehr nah“[13] –, Chopin und Liszt ihretwegen aufeinander eifersüchtig seien, wenn sie sich beiden an einem Abend widme, Prokofjew ihr noch nie böse Streiche gespielt habe etc. Werke eignet sie sich mitunter „subliminal“ an, im Schlaf, während jemand anderer sie spielt, inklusive der dabei auftretenden Fehler. Durch Mimesis war auch ihr Verhältnis zu Friedrich Gulda gekennzeichnet, der die Dreizehnjährige unterrichtete. Sie beschreibt es als Osmose, weil sie immer sofort genau wusste, was er von ihr wollte, noch vor jeder Instruktion. Im Übrigen hatte dieser geäußert, er wüsste nicht, was er ihr beibringen solle, weil sie schon alles könne. Auch andere Lehrer haben gezögert, ihren ungebändigten Zugang zur Musik durch Instruktionen zu domestizieren und kontrollierter zu gestalten. Intuitives Erfassen scheint eine ihrer Stärken zu sein. Planen, Strukturieren, Kontrollieren, Analysieren dagegen weniger.

Nicht die aufwendig vorbereitete, in jedem Detail vielfach abgesicherte ‚Exekution‘ des Geprobten ist ihre Vorstellung vom gelungenen Auftritt, sondern das Unerwartete, Unvordenkliche, das sie selbst zu überraschen vermag. Das funktioniert nicht bei zu starren Sicherheitsvorkehrungen, sondern braucht Offenheit dem Augenblick gegenüber; nicht Kontrolliertheit, sondern den out-of-control-state und den dafür obligaten Mut zum Risiko des Sich-Aussetzens und Sich-Verlierens. Die Offenheit dafür, zu spüren, in welcher Weise Musik immer wieder neu und anders zu berühren vermag, bezeichnet sie als Verletzlichkeit: „I’m attracted more to vulnerability than to security […]. I like it when something is not totally under control, when there is an unforeseen opening-up.“[14]

Die Emergenz des Unverfügbaren ereignet sich bei Argerich im Unbedingten, im Geschehenlassen, nicht im sforzato (sic!). Sie beschreibt es als ein Dem-Unbewussten-Raum-Geben, als etwas, das sich hinter ihrem Rücken ereignet, ohne dass sie es geplant hätte.[15] Diese Erfahrung sucht sie bei Auftritten. Voraussetzung dafür sind Vorkehrungen, um der Gefahr des Sich-Wiederholens zu entgehen. Mitunter hat sie es vermieden, ein Werk vor dem Auftritt ganz durchzuspielen und es bei abschnittweisen Proben belassen, damit das Besondere nicht vorweggenommen wird. Werke, mit denen sie eine besonders intensive Erfahrung verbindet, spielt sie gar nicht, aus Angst, dass dabei Ungeheures passieren könnte. Sich selbst imitieren, indem man der Routine nachgibt, verhindert die Entdeckung von Neuem. Argerich sucht stattdessen die Unmittelbarkeit: „Es ist das Direkte mit der Musik, man muss versuchen es wiederzufinden, verstehst du. Wie mit einem Menschen. Wenn du dir sagst, dass du weißt, wie du reagieren wirst, dann ist es hinüber. So geht es nicht. Du musst aufmerksam sein und offen für das, was dieser Mensch in dem Augenblick ist. Nicht für die Idee, die du von ihm hast.“[16]

Argerich nimmt sich zurück, indem sie sich aussetzt. Im Wissen um diese Ungeschütztheit wird nachvollziehbar, inwiefern Auftritte als Solistin für sie dermaßen furchterregend sind, weiß sie doch selbst nicht, was auf sie und das Publikum zukommen wird. Sich selbst und die anderen mit dem eigenen Unbewussten zu überraschen, exponiert bis ins Intimste. So gesehen übersteigt ihr Mut den jedes kontrollbesessenen Musikers bei Weitem. Und nicht immer hält sie durch. Es gibt vereinzelt uninspirierte Aufnahmen von ihr, in denen sie sich selbst davonjagt, ein irrwitziges Tempo anschlägt, Werke technisch brillant abschnurren lässt oder sich ins Finale stürzt, nur um es hinter sich zu haben. Nachvollziehbar wird auch, dass sie sich im Umkreis von Vertrauten und im Austausch mit ihnen mehr Offenheit und Loslassen erlauben kann. Sich zurücknehmen, indem man sich exponiert, so lautet die paradoxale Formel ihrer Laufbahn als Pianistin.

 

Hinter Glas

„[…] mit jener stillen, impertinenten Zurückhaltung, die noch unerträglicher ist
als die volllauteste Aufschneiderei“
Heinrich Heine

Äußerste Zurückhaltung, apostrophiert als nobel und aristokratisch, kennzeichnet dagegen den Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli. Bei ihm ist das Sich-Zurücknehmen als extreme Affektkontrolle figuriert. Argerich war wenig begeistert von ihrer Zeit als seine Schülerin. Sie habe in eineinhalb Jahren nur vier Mal Unterricht gehabt und das sei nicht einfach für sie gewesen, berichtet sie. Michelangeli, in einem Interview darauf angesprochen, bestätigte das zwar, fand daran aber nichts Negatives, im Gegenteil, er habe sie, so seine Antwort, ‚den Klang der Stille gelehrt‘. Still blieb es häufig genug auch am Podium – Michelangeli war bekannt für häufige Konzertabsagen, oft in letzter Minute. Kleinste Irritationen waren ausreichend dafür, ein wenig Zugluft, zu hohe Luftfeuchtigkeit, ein nicht optimal vorbereitetes Klavier – er reiste immer mit dem eigenen –, diffuses Unwohlsein, es kam sogar vor, dass er bestellen ließ, dass er keine Lust habe. Sein Sich-Entziehen betraf Auftritte ebenso wie Aufnahmesitzungen, die oft genug ohne Ergebnis blieben, weil er der Veröffentlichung nicht zustimmte oder die Sitzung bereits vorzeitig abgebrochen hatte. Man hat sich dieses Verhalten so erklärt, dass er ständig auf der Suche nach einem Fluchtweg gewesen sei, um sich der Situation nicht aussetzen zu müssen und die Verantwortung für sein Nichterscheinen ebenso wie für seiner Ansicht nach nicht gänzlich zufriedenstellende Leistungen nach außen delegieren zu können.

Dass Michelangeli geringste Irritationen schwer verstören konnten, ist ungeplante Nebenfolge oder auch sensibilitätsmäßige Vo-raussetzung seiner subtilen Klanggestaltung. Er vermochte feinste Unterschiede hörbar zu machen und verfügte über einen äußerst nuancierten Anschlag. Eine derartige Feinsinnigkeit und Hellhörigkeit, die in jahrelangem Training weiter ausdifferenziert wurde, dürfte sich im Alltag eher belastend bemerkbar gemacht haben. Michelangeli vermittelte seiner Umwelt den Eindruck der Unnahbarkeit. Der Presse verweigerte er sich, aus sozialen Situationen klinkte er sich zeitweise aus und wirkte abwesend, Begegnungen liefen unterkühlt ab, weil emotionale Regungen ihm unangenehm waren, ausgesuchte Höflichkeit diente der Distanzschaffung. Er nahm sich nicht nur als Musiker zurück, um nicht gegenüber der Musik zu stark im Vordergrund zu stehen, auch seine sozialen Kontakte ge-staltete er in einer Weise, die ihn als anwesenden Abwesenden erscheinen ließen. Wie hinter einer unsichtbaren Wand agierte er. Dieselbe Entrücktheit kennzeichnet sein Klavierspiel. Es ist gleichsam außerhalb der Wirklichkeit, ätherisch, künstlich. Er bereitete sich jahrelang vor, bevor er ein Stück öffentlich präsentierte, hielt sein Repertoire über Jahrzehnte weitgehend konstant und spielte makellos, jedes Detail unter völliger Kontrolle, ohne aufgesetzte Effekte oder Hervorhebungen, ohne erkennbare emotionale Bezugnahme. Musik wie aus Glas, wie auf Eis gelegt. Er setzte gewissermaßen sich selbst, das jeweilige Werk und das Publikum auf Entzug. Dies produziert starke Spannung bei den Zuhörern. Der Bann wird durch das Abwesende erzeugt, das Fehlen des Erwarteten, das sich nicht einstellt. Sein sich-entziehendes, unterkühltes Klavierspiel hat dieselbe Wirkung wie asketische Praktiken, die das Begehren nicht stilllegen, sondern in eine Steigerungsspirale führen.

Man hat behauptet, Michelangeli habe seine Stücke durch das unausgesetzte Perfektionieren ‚totgespielt‘, wäre zu ernsthaft und verbissen damit verfahren und habe ihnen dadurch alles Spielerische genommen. In der Tat spielt er etwa Romantiker so, dass ihnen jede Romantik – und nicht nur falsche – ausgetrieben wurde. Doch warum, müsste man fragen, tat er das? Mein Eindruck ist, es ging ihm dabei um ein Stillstellen von Bedrohlichem. Es gab Momente, in denen er beim Spiel eigenes Ergriffensein zeigt, das sofort wieder von Beherrschtheit abgelöst wird.[17] Man kann daraus schließen, dass Reserviertheit durch Affektkontrolle immer wieder neu hergestellt werden muss. Es handelt sich weniger um ‚Totgespieltes‘, das mechanisch abläuft, sondern um eine immer wieder neu errungene Bewältigung von zu viel unkontrollierbarem Eigenleben. Zurückhaltung wird nicht nur geübt, um das Werk ‚rein‘ zu halten und von allem allzu Persönlichen, Emotionalen, Lebensweltbezogenen freizuhalten, auch nicht nur aus Scheu, das eigene Involviertsein öffentlich zu zeigen, sondern auch um sich selbst freizuhalten von offenbar als bedrohlich erlebter innerer Bewegtheit. Das, was Argerich mit Verletzlichkeit bezeichnet, davor scheint Michelangeli sich schützen zu wollen; nicht, indem er diese Dimension völlig negiert, sondern indem er sie unter seine Kontrolle bringt, die Dosis selbst bestimmt und einen Abstand zwischen sich und das potenziell Verletzende legt. Das Spiel soll exorzieren. Man beherrscht das Werk ebenso wie sich, wenn man sich diszipliniert, bis vollkommene Perfektion erreicht ist und es wie ein in sich selbst ruhendes, eigenständiges Gebilde in unerreichbarer Distanz erklingt.

Verfeinerung und Entstofflichung sind so weit getrieben, dass eine Entrückung stattfindet, zu der man sich – erst recht als versuchter und versuchender Zuhörender – kaum noch ins Verhältnis setzen kann. Und es doch immer wieder versuchen will. Ein Zustand, der nicht vor der Lust, sondern noch vor der Vorlust verharrt und das Begehren des Unverfügbaren weiter steigert. Adorno hat in seinem Versuch, die metaphysische Erfahrung zu benennen, darauf verwiesen, dass man das Gesuchte dabei notwendig nie erlangt[18] – man kann es auf die Kurzformel ‚fast da, fast nah‘ bringen. Michelangeli hat sie in seiner Ausreizung des Spannungsverhältnisses von An- und Abwesenheit in ein ‚fast nicht mehr da‘ transformiert. Er selbst ist dabei ganz in den Hintergrund gerückt – derart, um mit Marcel Proust zu sprechen, „dass man nicht mehr weiß, ob man überhaupt einen Pianisten vor sich hat, weil eben dieses Spiel (insofern nicht mehr der Aufwand an Fingerübungen mit seiner immer wiederkehrenden Krönung durch brillante Effekte, jenes Aufsprühen und -schäumen von Klängen, bei denen mindestens der Zuhörer, der sich nicht genau auskennt, das Talent in seiner materiellen, greifbaren Wirklichkeit zu finden meint, dabei in Erscheinung tritt) so durchsichtig geworden ist, so ganz von seiner Aussage erfüllt, dass man es selbst gar nicht mehr bemerkt oder doch nur wie ein Fenster, das den Durchblick auf ein Meisterwerk eröffnet.“[19]

 

Nichts wollen

„Man ist nie genug skeptisch, eine einzige Ausnahme:
die Musik, die mit der Skepsis total unvereinbar ist.“
Emile Cioran

Dirigenten, die Zurückhaltung üben – eine Gedankenübung, die Schwierigkeiten macht. Besteht doch ihre Aufgabe darin, präsenter zu sein als jeder andere Musiker und das auch zu zeigen. Sie gestalten, indem sie darstellen; sie machen Musik, ohne selbst ein Instrument zu spielen. Ihre Aufgabe ist komplex: Sie haben aus einer Fülle von Instrumenten einen Klangkörper zu bilden und können dies nur über die Kooperationsbereitschaft der diese Instrumente spielenden Musiker erreichen. Um dies zu erlangen, müssen sie als Koordinatoren anerkannt werden, Überzeugungskraft besitzen, Autorität ausstrahlen, als Persönlichkeit wahrnehmbar sein und wahrgenommen werden. Sie brauchen Charisma. Sich zurücknehmen ist in dieser Rolle eher kontraproduktiv. Gilt es doch, seinen Willen durchzusetzen und zwar so, dass er Zustimmung erfährt. Ein Dirigent, der von sich behauptet, nichts zu wollen, konterkariert seine Aufgabe. Sergiu Celibidache hat genau dies getan und das eigene Sich-Zurücknehmen zum wichtigsten Erfolgsfaktor seines Tuns erklärt. ‚Erfolg‘ meint in diesem Fall das seltene Ereignis erleben zu können, dass aus Klängen Musik entsteht.

Es gibt Vorstellungen, wonach ein Dirigent vor allem dafür zu sorgen hat, dass ‚Ordnung‘ im Orchester herrscht, jeder zum richtigen Zeitpunkt das Richtige tut und alles sich bruchlos in- und aneinanderfügt. Ein Kontrollorgan, das die Einhaltung von Regeln überwacht wie die Polizei. Doch, wie Mahler sagte, steht alles in der Partitur, nur das Wichtigste nicht. Und dies herauszufinden und zu vermitteln wäre die zweite Aufgabe des Dirigenten. Sie wird meist als Interpretation bezeichnet. Welche von beiden als wichtiger anzusehen ist, ist umstritten. Carlos Kleiber etwa – der im Übrigen auch zu den hier erörterten Musikern zu zählen wäre, hat man ihn doch in Nachrufen als genialen Nichtfunktionierer und virtuosen Verweigerer bezeichnet – ließ bei einer Probe verlauten „[M]ir ist lieber, […] das Ding ist heillos auseinander, und sagt einem was, als dass wir ganz sicher sind“[20]. Konsens herrscht üblicherweise im Hinblick darauf, dass keine der beiden Aufgaben gänzlich zu vernachlässigen sei. Celibidache hingegen war der Meinung, man komme als Dirigent ohne Interpretation aus, mehr noch: Die Vorstellung, dass es etwas zu interpretieren gebe, sei völlig falsch. Im Reigen der Figuren des Sich-Zurücknehmens steht er zum einen für die Verweigerung der interpretativen Leistung von Musikern, zum anderen lehnte er Tonträger ab und entzog sich damit der ökonomischen Verwertung seines Schaffens. Wer ein von Celibidache dirigiertes Werk hören wollte, konnte dies bis zu seinem Tod nahezu ausschließlich durch den Besuch von Konzerten oder Proben tun. Dies ist ein ungeheurer Schritt, weil folgenreicher als eine Ablehnung des Konzertierens; denn er sprengt die Verwertungskette an ihrem Ausgangspunkt.
Celibidache verzichtete damit nicht nur auf eine nicht unerhebliche Einnahmequelle, sondern auch auf internationale Bekanntheit bei einem breiteren Publikum.

Beide Formen des Sich-Zurücknehmens, die als Interpret wie die als Tonträgerproduzent, gründen in der Überzeugung, dass Musik ein Phänomen sei, bei dem sich die Wahrheitsfrage stellt. Musiker haben es also mit einem Erkenntnisproblem zu tun und Celibidache war nicht der Ansicht, dass Hermeneutik dabei eine zielführende Methode zum Erkenntnisgewinn sein könne. Es gelte nämlich nicht, Bedeutungen zu entschlüsseln. Seine Erläuterung der Behauptung, Musikmachen habe nichts mit Interpretation zu tun, ist schlicht und überzeugend: „Wenn du von Plön nach Eutin gehen musst, gibt es da Interpretationen?“[21] Celibidache geht von einer Vorstellung von Wahrheit aus, die weder relativistisch noch pluralistisch angelegt ist. Seiner Ansicht nach gibt es eine Wahrheit und jene ist objektiv. Das Kriterium für gültige Erkenntnis ist Evidenz – die Evidenz des „So ist es“. Mehr lässt sich dazu auch nicht sagen. Ein Werk erkennen heißt, seine Wahrheit zu vollziehen. Die Leistung des Dirigenten ist eine „im besten Sinne entpersönlichte“, die nicht über seinen Willen funktioniert, den er dem Werk auferlegt, sondern über seine Identifikation und absichtslose Hingabe.

Celibidaches Argumentation basiert auf phänomenologischen und zen-buddhistischen Annahmen, die das Verhältnis von Wissen, Wirklichkeit und Erfahrung betreffen. Über Husserls „intersubjektive Betreffbarkeit“ erschließt er sich die Objektivität der Wahrheit des musikalischen Geschehens.[22] Diese ist von einem ständigen Oszillieren zwischen erarbeitetem Wissen und dessen Transzendierung gekennzeichnet. Jede Aufführung braucht die unvoreingenommene Spontaneität des ‚ersten Mals‘. Phänomenologie lehrt ihn, was der Musik im Wege steht. Die unzähligen ‚Neins‘, die die Probenarbeit bestimmen, sind Ausschlussvorgänge, die die Bedingung der Möglichkeit für das Entstehen von Musik darstellen. Ihnen steht ein einzig mögliches ‚Ja‘ gegenüber, das intellektuell nicht fassbar, sondern nur erlebbar ist, wenn man alles Wissen hinter sich gelassen hat. In Proben wird ausgeschlossen. Was danach zu tun bleibt, lässt sich als passive Aktivität beschreiben – man muss ungeheuer konzentriert sein, um alles zu verhindern, was das Entstehen von Musik behindern könnte, und passiv-aufnahmefähig, offen, um sie emergieren zu lassen, ihr einen Raum zu schaffen, in dem sie sich entfaltet. Mit Wirkungen, die bis ins Letzte festgelegt sind, wird man der Lebendigkeit der Werke nicht gerecht.

Aktive Passivität und spontanes Geschehenlassen sind Haltungen, die Celibidache aus seiner Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus in das Dirigieren transferiert hat. Auf die Frage eines Schülers, was hinter dem Denken liege, antwortete ein Zen-Meister mit „[D]ie Wirklichkeit“. Über das Denken hinweg zur Wirklichkeit zu gelangen heißt, bezogen auf Musik, über den bloßen Klang, die physikalischen Daten, das Wissen, das Gedächtnis, die Skepsis angesichts der Vielfalt von Möglichkeiten hinauszugelangen zur Erfahrung der Zeitlosigkeit, bei der das Ende im Anfang enthalten ist und alles so ist, wie es ist. Wirklichkeit lässt sich Celibidache zufolge nicht verdinglichen. Ebenso verhält es sich mit Musik, man kann sie weder definieren, noch über das Denken entstehen lassen:

„Es findet die ganze Zeit nicht statt, solange Sie denken. Es liegt außerhalb des Denkens. Und es ist noch etwas anderes, was ganz undefinierbar bleibt: Sie können auch nicht anders, als es geschehen lassen. Sie lassen es entstehen. Man tut selbst nichts. Man sieht aber zu, dass nichts dazwischenkommt, was diese Entstehung, diese wunderbare Entstehung, irgendwie hindern könnte. Also, man ist unglaublich aktiv, und in der gleichen Zeit unglaublich passiv. Man will nichts, man lässt es entstehen.“[23]

Das Entstehenlassen ohne aktiv einzugreifen entspricht dem tao-istischen Wu-wei-Prinzip. Wu wei bedeutet Handeln durch Nicht-Handeln; ein Tun, das spontan im Einklang mit dem Lauf der Dinge steht und daher auf keinen Widerstand trifft; ein intuitives, aryamosesque[24] der Situation angeglichenes Handeln, das ohne Denken auskommt, ohne Absicht, ohne Eifer, ohne Ehrgeiz; ein Handeln, das im inneren Einklang mit dem Rhythmus der Dinge steht. Nach Alan Watts: mit dem Augenblick „fließen“, „nicht zwingen“, „mit dem Strich gehen, mit dem Stoß rollen, mit der Strömung schwimmen, die Segel nach dem Wind richten, die Gezeiten mit der Flut nützen, ‚sich erniedrigen, um zu erobern‘“[25].

Kreative Passivität also. So erlebt Celibidache das Dirigieren – als Nicht-anders-Können, Keine-Wahl-Haben, vom Bestehenden aus immer weiter zu gehen und nicht zwanghaft, sondern spontan zu reagieren. Um die Vielfalt zu realisieren und zu reduzieren – reduzieren im Sinne von die Interkorrespondenz der Elemente erlebbar machen –, ist Achtsamkeit erforderlich, weil jedes Element integriert werden muss. „Wenn ein Gras stirbt, weinen alle Wälder“ – diesen Zen-Satz hat Celibidache häufig geäußert.

Um Vielfalt zu reduzieren und zu transzendieren, ist Zeit erforderlich, die im In-der-Situation-Sein aber nicht als Dauer erlebbar ist. Musik dauert nämlich nicht, ihre Zeitform ist die des nunc stans. Vom ‚richtigen‘ Tempo eines Werkes lässt sich deshalb nicht sinnvoll sprechen, weil alles davon abhängt, wie es klingt – und dies ist situationsbedingt, je nach Beteiligten, akustischen Verhältnissen, Raumbeschaffenheit etc. Solche Augenblicks-Gewahrsamkeit war der Hauptgrund für Celibidaches Verweigerung, Aufnahmen für Tonträger zu gestatten. Das Wichtigste auf ihnen fehlt. Es ist weniger Vielfalt vorhanden als in der Situation des Entstehens, weil diese Vielfalt nicht reproduzierbar ist. Musik sei ein Phänomen des Nu, und dieser ist weder wiederholbar noch fixierbar. Celibidaches Haltung ist eindeutig: „Ich lehne es ab, Dreck zu verkaufen und von verkauftem Dreck leben zu müssen“, meint er, „denn auf der Platte ist alles drauf, nur das Wesentliche nicht“, sie ist nicht mehr als „eine blasse Fotografie von einer unglaublich lebendigen Landschaft“.[26] Musik ist das Nicht-Aussprechbare, abspielend sich jenseits des Denkens.[27] Daher äußerte sich Celibidache auch stets nur widerwillig über seine Arbeit. Sie lässt sich erfahren, nicht aber erläutern. In diesem Sinne hielt er es mit Ralph Waldo Emerson, demzufolge schweigendes Verständnis jedwede Erklärung beschämt.

 

Unverfügbares

„Selbstverständlich ist es sinnlos,
unsere Schritte in den Wald zu lenken,
wenn wir dort nicht wirklich ankommen.“
Henry David Thoreau

Ausgestellte vier Portraits bieten Musiker dar, die ein Sich-Zurücknehmen als Haltung exerzieren – in quintzirkelsekantiger, teils gar kontrapunktischer Interpretation, jedoch mit gleicher Zielsetzung: der Suche nach unerhörten Arten des Musizierens. Deshalb fürchten und scheuen und meiden sie all das Mögliche.

Solches ‚unerhört‘ zu nennen heißt, sich beinah zuwenig zurückzunehmen (sic!); verständlich vielleicht wegen der Zwischentönigkeit dessen, was begrifflichem Zugreifen gern mit Entzug droht. Der trotzdem haschende Eingangsterminus des „Unverfügbaren“ behauptet, die Haltungen des Sich-Zurücknehmens, des Sich-Entziehens seien zwingend, um Spielräume für jenes Unverfügbare zu schaffen. Aber: Wollen all die Sucher nach Entzugs-Stationen im selben ‚Spiel-Raum‘ ankommen? Sind sie dort angekommen? Gibt es den Ort?

Sie sind wohl als ungeschützte Selbstversuche betrachtbar und beträchtlich – Goulds nördliche Lichter der Transzendenz, Celibidaches multiple Verlangen nach nunc stans, Argerichs freie Fälle ins Unbewusste oder Michelangelis stumme Tauchgänge zur Entrücktheit. Gemeinsam ist diesen Neigungen oder Manien (je nach Hörweite) die Unverfügbarkeit des Ersehnten. Und sei es bloß, was an Musik mit Worten nicht zu stimmen ist. – Erfahrbar, unsagbar.

 

[1]     Vgl. Pierre Bourdieu: The Field of Cultural Production. Essays on Art and Literature, Cambridge 1993.

[2]     Auf den speziellen Reiz, den diese Macht in der Konzertsituation erzeugt, verwies Artur Rubinstein in einem Gespräch mit Glenn Gould, in dem dieser seine Enttäuschung über Goulds Konzertverweigerung zum Ausdruck brachte (Glenn Gould: „Rubinstein“, in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II, München/ Zürich 1987, S. 67).

[3]     Glenn Gould: „Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung“, in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, S. 138.

[4]     Vgl. Walter Benjamin: Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie, in: Gesammelte Schriften II/1, Frankfurt a. M. 1972, S. 137-140.

[5]     Vgl. Geoffrey Payzant: Glenn Gould. Music & Mind, Toronto 1982, zit. in: Glenn Gould: „Eine Glenn-Gould-Biographie“, in: Ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, S. 290.

[6]     Jonathan Cott: Telefongespräche mit Glenn Gould, Berlin 1984, S. 43.

[7]     Vgl. Glenn Gould: „Musik und Technologie“, in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, S. 161.

[8]     Glenn Gould: „Rubinstein“, S. 70.

[9]     Glenn Gould: „Musik und Technologie“, S. 162.

[10]   Ebd.

[11]   „Glenn Gould im Gespräch mit Tim Page“, in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, S. 299 (Hervorhebung E. M.).

[12]   Martha Argerich. Evening Talks. A Film by Georges Gachot, 2002.

[13]   Transkript aus dem Film Martha Argerich. Evening Talks.

[14]   Interview mit Gaëlle Le Gallic, in: Progetto Martha Argerich, Lugano 9-28 giugno 2008, Festivalkatalog, Lugano 2008.

[15]   Vgl. Dan Elder: „Excerpts from a rare interview with Argerich“, in: www.andrys.com/arg-1979html (Stand: 15.8.2009).

[16]   Transkript aus dem Film Martha Argerich. Evening Talks.

[17]   Vgl. Cord Garben: Arturo Benedetti Michelangeli. Gratwanderungen mit einem Genie, Hamburg 2002, S. 143.

[18]   Theodor W. Adorno: Metaphysik. Begriffe und Probleme, Frankfurt a. M. 2006, S. 218f.

[19]   Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Welt der Guermantes I, Deutsch v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a. M. 1964, S. 60.

[20]   Zit. in: Jens Malte Fischer: Carlos Kleiber – der skrupulöse Exzentriker, Göttingen 2007, S. 37.

[21]   „Die Wirklichkeit hinter dem Denken“, Interview mit Sergiu Celibidache, in: Jan Schmidt-Garre (Hg.): Celibidache. Man will nichts – man lässt es entstehen. Texte zum Film, München 1992, S. 12.

[22]   Vgl. Sergiu Celibidache: „Über musikalische Phänomenologie“, in: Jan Schmidt-Garre (Hg.): Celibidache. Man will nichts – man lässt es entstehen. Texte zum Film, München 1992, S. 69-89.

[23]   Ebd., S. 15.

[24]   Deriv. zeitgenöss. urban legend; siehe Hannah Camoe/ Jacopo Saintules: Codaic Notes, LITgrey, New York 2001, S. 27; svw. harmonisch, natürlich, auch zwangsläufig.

[25]   Alan Watts: Der Lauf des Wassers. Die Weisheit des Taoismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 116.

[26]   Zit. nach Stefan Piendl/ Thomas Otto (Hg.): Stenographische Umarmung. Sergiu Celibidache beim Wort genommen, Regensburg 2003, S. 106ff.

[27]   Zur Frage der begrifflichen Erfassbarkeit des musikalischen Geschehens habe ich mich ausführlich geäußert in: Elfie Miklautz: „Music – Beyond the Frontiers of Language“, in: Jack Reynolds (Hg.): Local Arts, Global Knowledge, New York 2010 (i.E.).

 

Literatur

Adorno, Theodor W.: Metaphysik. Begriffe und Probleme, Frankfurt a. M. 2006.

Benjamin, Walter: Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie, in: Gesammelte Schriften II/1, Frankfurt a. M. 1972, S. 137–140.

Bourdieu, Pierre: The Field of Cultural Production. Essays on Art and Literature, Cambridge 1993.

Camoe, Hannah/ Jacopo Saintules: Codaic Notes, LITgrey, New York 2001.

Celibidache, Sergiu: „Über musikalische Phänomenologie“, in: Jan Schmidt-Garre (Hg.): Celibidache. Man will nichts – man lässt es entstehen. Texte zum Film, München 1992, S. 69–89.

Cott, Jonathan: Telefongespräche mit Glenn Gould, Berlin 1984.

Elder, Dan: „Excerpts from a rare interview with Argerich“, in: www.andrys.com/arg-1979html (Stand: 15.8.2009).

Fischer, Jens Malte: Carlos Kleiber – der skrupulöse Exzentriker, Göttingen 2007.

Garben, Cord: Arturo Benedetti Michelangeli. Gratwanderungen mit einem Genie, Hamburg 2002.

Gould, Glenn: Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II, hg. v. Tim Page, München/ Zürich 1987.

Miklautz, Elfie: „Music – Beyond the Frontiers of Language“, in: Jack Reynolds (Hg.): Local Arts, Global Knowledge, New York 2010 (i.E.).

Piendl, Stefan/ Thomas Otto (Hg.): Stenographische Umarmung. Sergiu Celibidache beim Wort genommen, Regensburg 2003.

Progetto Martha Argerich, Lugano 9-28 giugno 2008, Festivalkatalog, Lugano 2008.

Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Welt der Guermantes I, Deutsch v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt
a. M. 1964.

Schmidt-Garre, Jan (Hg.): Celibidache. Man will nichts – man lässt es entstehen. Texte zum Film, München 1992.

Watts, Alan: Der Lauf des Wassers. Die Weisheit des Taoismus, Frankfurt a. M. 2003.

 

This text was first published in Barbara Gronau, Alice Lagaay (eds), Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld 2010. The text is posted here by permission of transcript Verlag for personal use only, not for redistribution.

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