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Soutine Biografie (1)

Die Lebensgeschichte des verfluchten Malers Chaim Soutine, der als Zwanzigjähriger aus Litauen nach Paris zog und der die schönsten roten Gladiolen, die schönsten jungen Zuckerbäcker und die schönsten Ministranten der Kunstgeschichte malte.

Chaim Soutine wurde 1892 oder 1893 als zehntes von elf Kindern eines armen jüdischen Flickschneiders in Smilowitchi, einem litauischen Dorf in der Nähe von Minsk, geboren. Smilowitchi, in dem 4000 Einwohner, Tataren, Polen, russische Bauern, vor allem aber Juden lebten, bestand aus einer tristen Ansammlung baufälliger Häuser. Von der Straße aus konnte man durch ein Fenster seines Elternhauses Chaims Vater, Zalman Soutine, einen ungebildeten und gewalttätigen Mann, Tag und Nacht in einer buddhaähnlichen Sitzhaltung bei seinen Flickarbeiten sehen. Das Haus stand an einem großen Platz, auf dem der Gemüsemarkt abgehalten wurde. Dahinter floß die Vilna, die den Garten der Familie oft monatelang überschwemmte. Der kleine Chaim flanierte gerne über den Markt, mischte sich unter die Bauern, streifte durch die Felder und konnte sich stundenlang alleine am Flussufer aufhalten. Seine Muttersprache ist jiddisch, nur ein wenig konnte er russisch sprechen. Chaims Mutter soll früh gealtert, immer voller Sorgen, vollkommen schweigsam und mit ihrem Haushalt und den elf Kindern ständig überfordert gewesen sein. Besonders freitags, wenn sie das Brot für die ganze Woche backen musste, hagelte es aus ihren mehligen Händen Schläge.

Im Alter von 13 Jahren machte Chaim, das Kind orthodoxer Juden, zum Zorn seiner Eltern und Geschwister auf allen möglichen Papierfetzen, die ihm zwischen die Finger kamen, Zeichnungen und Skizzen und bemalte die Wände des Hauses mit Holzkohle. Für diese Schandtat wurde das Kind von seinen älteren, ebenfalls verrohten Brüdern verprügelt mit den Worten: „Juden dürfen nicht malen!“, denn Zeichnen und Malen waren in der orthodoxen Gemeinde ketzerisch und galten als schwere Sünde und Blasphemie. Wenn die betenden Gläubigen im Tempel des Schtetls aufgefordert wurden, in Ehrfurcht vor Gott den Kopf zu senken, hob der rebellische Chaim, der sich nicht unterordnen wollte, stolz sein Haupt. Vor seinen gewalttätigen Brüdern versteckte er sich in den Wäldern und ließ sich erst wieder blicken, wenn ihn der Hunger nach Hause trieb. Sobald er wieder in der Küche auftauchte, um sich mit Proviant zu versorgen – Milch und frisches, warmes Schwarzbrot -, wurde er wieder von seinen Geschwistern verhauen. Seither hatte er eine tiefe Narbe auf der Brust. Um Zeichenkreide kaufen zu können, veräußerte er aus dem elterlichen Haushalt ein Küchenmesser und wurde dafür zur Strafe in den Keller, bei anderer Gelegenheit in den Hühnerstall gesperrt. Als Chaim 16 Jahre alt war, bat er einen frommen Juden, daß er für ein Porträt Modell sitzen möge. Am nächsten Tag wurde er von den Söhnen und Freunden des Mannes so schwer misshandelt, daß er sich alleine nicht mehr erheben konnte. Die Täter glaubten sogar, daß er tot sei, und ließen ihn einfach liegen, bis die Polizei kam. Erst nach einer Woche konnte er wieder auf eigenen Beinen stehen und gehen. Soutines Mutter verklagte die Übeltäter, und mit dem Bußgeld von 25 Rubeln verließ der gequälte und gedemütigte Chaim mit einem Freund sein Heimatdorf Smilowitchi und fuhr nach Minsk. Das Wertesystem in seinem Schtetl hatte keinen Platz für Bilder, Soutines Malerei wurde von der orthodoxen Gemeinde als Bedrohung  empfunden.

Nach einem einjährigen Aufenthalt in Minsk ging er nach Vilnius und bewarb sich um ein dreijähriges Studium an der Kunsthochschule, wo er bei der Aufnahmeprüfung einen Kegel, einen Kubus und einen Krug zeichnen sollte, aber bei diesem entscheidenden Test so nervös war, daß er einen Fehler in der Perspektive machte und abgewiesen wurde. Der junge Chaim warf sich Professor Rebakoff regelrecht zu Füßen, kniete weinend vor ihm nieder und flehte ihn an, die Prüfung unter Ausschluß der Öffentlichkeit wiederholen zu dürfen. Der zu Tränen gerührte Kunstprofessor erlaubte ihm eine zweite Aufnahmsprüfung. Die Themen seiner Skizzen waren damals schon jüdische Begräbnisse, Einsamkeit, Armut, Elend, Tod und Verzweiflung. Theatralisch inszenierte der Jugendliche die Sitzungen mit seinen Modellen. Sein Freund Kikoine musste eine Aufbahrung simulieren und sich auf den Boden legen. Chaim breitete ein weißes Laken über den Mitschüler der Akademie, umstellte den abgedeckten Körper mit brennenden Kerzen und begann zu zeichnen. Die Schüler der Kunstschule in Vilnius trugen eine Studentenuniform mit goldenen Knöpfen und Mütze. Um an seine Malobjekte heranzukommen, gab sich Soutine bei den Dorfbewohnern, die von der Uniform beeindruckt waren, als Amtsperson aus. „Der ‚pristav’, der Polizeikommissar, schickt mich, um Ihr Porträt anzufertigen“, sagte er zu den eingeschüchterten Bauersleuten, die sich bereitwillig porträtieren ließen. Nach drei Jahren beendete Chaim Soutine das Studium an der Kunsthochschule in Vilnius. Aus ihm war, wie es hieß, einer der besten Studenten geworden, aber er wollte weg, er wollte Rußland und das ihn bedrückende Schtetl Smilowitschi verlassen, er wollte nach Paris, in die damalige europäische Hauptstadt der Künste. Ein Bekannter aus Vilnius, ein jüdischer Arzt, finanzierte seine Reise. Noch im Jahr seines Studienabschlusses, im Juli 1913, kam er auf dem Gare du Nord in Paris an. Als Gepäck hatte der zwanzigjährige Immigrant einen Rucksack, eingerollt unter dem Arm ein paar in Russland gemalte Bilder, ein paar Rubel und die Anschrift von „La Ruche“.

„La Ruche“, was soviel heißt wie „Der Bienenkorb“, war ein vom akademischen Bildhauer Alfred Boucher im Jahre 1902 errichtetes Gemeinschaftshaus für mittel- und wohnungslose Künstler, eine Art Akademie, in der den Porträt-Malern kostenlos Modelle zur Verfügung gestellt wurden. La Ruche war ein rotundenartiger Gebäudekomplex, der auf jeder Etage in wabenförmige Ateliers unterteilt war. Die Räume waren nicht durch Türen, sondern durch Vorhänge abgeteilt, und über den Türstöcken, auf Hängeböden, befanden sich die Betten. Es gab in La Ruche keinen Strom, kein Gas, jeder hatte eine Kerze in der Hand. Diese „Villa Medici des Elends“, wie sie auch genannt wurde, diese zur Zeit der Ankunft Soutines bereits verlotterten und von Ungeziefer verseuchten Quartiere konnten zweihundert Künstler beherbergen. Wenn die „Bienen“, so nannte der Gönner Alfred Boucher seine Pensionäre, ihre Mieten nicht zahlen konnten, ignorierte er es und bedrängte niemanden. In den Ateliers, die jedermann  offenstanden, tauchten manche Ankömmlinge mit ihren Farbtöpfen und Pinseln  nachts auf, und der großzügige Boucher begrüßte jeden Neuankömmling, ohne zu fragen, warum und woher er kam, was er denn eigentlich hier wolle. Wer in La Ruche wohnte und etwas mehr verdient hatte, war verpflichtet, den mittellosen Malern die Leinwände zu kaufen. Anfangs ging Soutine, der die Passage de Dantzig, in der sich La Ruche befand, nach seiner Ankunft in Paris nur mühsam finden konnte und sich zuvor in den Gängen der Métro verlaufen und verirrt, sich in der Stadt auf jiddisch zum Quartier Montparnasse durchgefragt hatte, in den Ateliers der anderen Künstler aus und ein, er aß bei den einen und schlief bei den anderen. Pinchas Krémègne, mit dem er in Vilnius die Kunsthochschule besucht, den es noch vor Soutine nach Paris ins La Ruche verschlagen hatte, bei dem er zuallererst anklopfte und um Gastfreundschaft bat und mit dem er jiddisch sprechen konnte, beklagte sich später über Soutine, der sich so lange bei Tisch bedienen konnte, bis für andere nichts mehr auf den Tellern blieb, der die karge Mahlzeit einer Schüssel Kartoffel alleine verschlingen konnte und der sich dann auch nicht schämte, mit den Worten: „Das ist mein Bandwurm!“ um ein weiteres Stück Brot zu bitten. Von seinen Malerkollegen wurde Soutine nie mit dem Vornamen, immer mit dem Familiennamen angesprochen. Soutine verdiente seinen erbärmlichen Lebensunterhalt zeitweise als Gepäcksträger am Gare de Montparnasse, arbeitete als Dekorateur auf der damaligen Automobil-Ausstellung im Grand Palais, meldete sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges zur Arbeitsbrigade und hob Schützengräben aus, wurde aber wegen seines Magenleidens bald entlassen. Stundenlang soll er manchmal im Quartier Montparnasse, wo sich auch die Künstlerklause La Ruche befand, an den Theken der Cafés  „Le Dome“ und „La Rotonde“ herumgelungert haben, bis ihm jemand einen Café Crème oder ein Sandwich spendierte. Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der Soutine in den Cafés von Montparnasse begegnete, beschrieb seinen Eindruck so: „In der allerdunkelsten Ecke saßen regelmäßig Krémègne und Soutine. Soutine blickte verschreckt und schläfrig drein – als hätte man ihn aus seinen Träumen gerissen und ihm keine Zeit zum Waschen und Rasieren gelassen. Er hatte die Augen eines gejagten Wildes – vielleicht vor Hunger.“

Als sich Soutine nach langwierigen und schmerzhaften Ohrenleiden endlich entschlossen hatte, zu einem Ohrenspezialisten zu gehen, entdeckte der Ohrenarzt in seinem Gehörgang nicht einen eitrigen Abszeß, sondern ein Wanzennest. Der magenkranke Chaim Soutine war abergläubisch und hatte große Angst vor einer Nahrungsmittelvergiftung. Als er einmal ein Stück Schinken, von dem er gegessen hatte, verfault im Abfall wiederfand, war er überzeugt, daß auch er verfaulen und  sterben werde, weil er zuvor von diesem Schinken gegessen habe. Obwohl er dichtes, volles Haar, aber ständig Angst davor hatte, es zu verlieren, ließ er sich von einer Nonne regelmäßig seine Kopfhaut massieren und mit einem Spezialtonikum behandeln. Ebenfalls gegen Haarausfall beschmierte er mit einem frisch aufgeschlagenen rohen Ei seine Haare, setzte sich, ohne Eiweiß und Dotter wieder herauszuwaschen, einen Hut auf und spazierte durch Paris. Der Einzelgänger und Außenseiter Soutine wurde von vielen als melancholischer, oft verbitterter und zurückhaltender Mensch beschrieb, aber er selbst sagte einmal über sich: „Ich bin nicht unglücklich! Ich war immer glücklich.“

Marc Chagall, der zwei Jahre vor Soutine ins La Ruche gekommen war, erinnerte sich, daß man durch die Passage de Dantzig, wo die Ateliers von La Ruche mit den eifrigen Malern lagen, wie durch eine Armeleutesiedlung gehen konnte, ohne zu unterscheiden, wer wirklich künstlerisches Talent hatte oder wer Möchtegernkünstler und Farbenschmierer war. Während in den russischen Ateliers ein gekränktes Modell leise schluchzte, ertönten bei den weinseligen Italienern Lieder und Gitarrenklänge, bei den Juden soll es häufig Diskussionen gegeben haben, während er, Chagall, ganze Nächte lang im Schein einer Petroleumlampe in seinem Atelier durchwachte, umgeben von Bilderrahmen, Eierschalen und leeren, stinkenden Suppendosen, die auf dem Boden lagen, dazwischen die Reste eines halbierten Herings, der Kopf des Fisches war für den einen, der Schwanz für den nächsten Tag als Mahlzeit bestimmt. Während Chagall, der von den Mitbewohnern von la Ruche „le poète“ genannt wurde, sich beim nächtlichen Gebrüll des Viehs aus den benachbarten Schlachthöfen an seinen Großvater, der Fleischhauer  im russischen Dorf Peskowatik war, erinnerte, der Fleischhauer war und seine allegorischen Traumbilder aus dem Gedächtnis auf die Leinwand zauberte,  musste Soutine seine Malobjekte direkt vor sich haben. In ungewaschenem und unrasiertem Zustand, mit feucht näselnder Aussprache, wie es hieß, den Hut über den Kopf gezogen, damit man ihn nicht erkennen und, was häufig vorkam, nicht ausspotten konnte, verließ Soutine oft schon um drei Uhr morgens sein Quartier, ging mit seiner Malkiste und mit einer kaputten Staffelei in die Außenbezirke von Paris und suchte seine Motive in der Natur, seine Modelle in der einfachen Bevölkerung in den kleinen Dörfern, lief zehn, zwanzig Kilometer mit seinen Malutensilien, um ein Objekt zu finden, hauste in einem Schweinestall, kehrte ohne Essen wieder zurück und wurde nicht selten schlafend zwischen seinen ausgerollten und bemalten Leinwänden angetroffen. Als Marc Chagall 1914, ein Jahr nach Soutines Ankunft, La Ruche verließ, dabei Gemälde zurückließ, die er niemals wiedersehen sollte, da einige zum Abdecken der Hühnerställe verwendet wurden, wäre Soutine  gern in Chagalls komfortableres Atelier gezogen, in das durch eine Dachbodenluke Tageslicht einfiel – „Mein Fenster öffnete sich zum Himmel, das war poetisch“, so Chagall -, aber Chagall lehnte den Wunsch seines Landsmannes mit der Begründung ab, daß Soutine wie ein Landstreicher aussehe.

Soutine trug, so beschrieben ihn einige Zeitgenossen, farbverschmutzte Kleider, durchlöcherte Schuhe, hatte eine flache Nase, dicke Lippen, schwarze, ins rötliche Gesicht hängende Haarsträhnen, einen scheuen, misstrauischen Blick, picklige Haut, ein kindliches Lachen mit nach innen gebogenen Armen und Beinen und mit gebeugtem Rücken will man ihn, ob bei Sonnenschein oder strömendem Regen, durch die Straßen von Paris haben laufen sehen. Soutine hatte außerordentlich schön Hände, die auch Amedeo Modigliani auffielen, mit dem Soutine im La Ruche befreundet war und der auch seine Bilder bewunderte. „Der große Maler unserer Zeit, das ist Chaim Soutine“, sagte Modigliani, „neben ihm existiere ich gar nicht.“ Die Frau des Kunsthändlers Zborowski hatte eine Abneigung gegen Soutine, sie wollte nicht, daß er in ihr Haus kommt, aber Modigliani, der dort gerne gesehen war, malte ein Portrait von Soutine auf eine Tür ihrer Wohnung und sagte zur Frau Zborowski: „Du wirst Soutine doch nicht los!“ Wenn Soutine abends von Modigliani – Modigliani war Alkoholiker und drogenabhängig – betrunken nach Hause kam, lief er um das runde Gebäude von La Ruche, suchte den Eingang zu seiner Klause und rief: „Merde, merde, ich kann die Tür nicht finden!“ Modigliani, der sogenannte „Prinz von Montparnasse“, und Soutine, das verkörperte, nach Schmutz und Ölfarben riechende Elend, haben zeitweise mit den selben Modellen gearbeitet. Im Zimmer, in dem sich Modigliani und Soutine nächtelang unterhielten und Wein tranken, bauten sie einen Desinfektionsring aus Asche oder Lehm ums Bett, um sich die Wanzen vom Leib zu halten. Als Modigliani wegen einer Lungentuberkulose im Sterben lag, soll er zu seinem Kunsthändler Zborowski, einem polnischen Dichter und Maler, gesagt haben, daß er, Modigliani, nun wohl werde „gehen“ müssen, ihm aber Soutine, ein Genie, zurücklasse und er sich seiner annehmen solle.

Im Jänner 1920 erfährt Soutine während eines Malaufenthaltes in Cagnes-sur-Mer, an der Cote d’Azur, die Nachricht vom Tod Modiglianis und vom Selbstmord der schwangeren Lebenspartnerin Jeanne Hébuterne. Soutines Freund und Biograph Emile Szittay berichtete, daß er Chaim besonders auch nach dem Tod seines Freundes Amedeo Modigliani, der ihn tief erschüttert haben soll, häufig in trauriger Stimmung angetroffen, besonders wenn er ein Gemälde zuende gebracht habe. Grégoire Michonze, einem Landschaftsmaler, zeigte Soutine an der Cote d’Azur einen Baum und sagte: „Dies hier ist mein Baum. Ist er nicht wie eine Kathedrale? Ich habe ihn 18mal gemalt.“ In diesem Sommer besuchten ihn Léopold Zborowski und dessen Frau Anna in Cagnes, begleitet von der vierzehnjährigen Paulette Jourdain, die seit einem Jahr im Hause des Ehepaars Zborowski angestellt war und die Modigliani  Modell gestanden habe. In Paulette Jourdain findet Soutine über mehrere Jahre eine hilfreiche Begleiterin und ein Modell. Paulette berichtete von endlos langen Sitzungen, die ihr die größte Geduld abverlangen, oftmals musste sie lange regungslos posieren. Paulette Jourdan stellte für den weltfremden und scheuen Maler den Kontakt zur Außenwelt her, besorgte mit ihm bei den Bauern Geflügel, das er malen wollte und  nach den Farben des Federkleides auswählte. An einem Morgen stellte Soutine weit draußen am Land seine Staffelei auf, malte aber nichts, starrte lang, mit seinen Händen seinen Kopf haltend, vor sich hin. Als ein Mann, der am Vormittag vorbei spaziert war, am Nachmittag den selben Weg zurückging und sah, daß er immer noch nichts gemalt hatte, fragte er, was er denn eigentlich hier mache. Soutine antwortete: „Ich warte auf den Wind!“ Soutine malte auf nicht aufgezogenen, künstlerisch wertlosen Gemälden aus dem 17. Jahrhundert, die ihm als Malgrund dienten und die er für ein paar Sous auf Flohmärkten erstanden hatte. Soutine, der glatte Malunterlagen schätzte, sagte einmal: „Ich lasse meinen Pinsel gerne gleiten.“ In der Hand hielt er immer mehrere Pinsel, die er, kaum hatte er sie für einen Strich verwendet, wegwarf. Farbtuben von bester Qualität soll er ausgesucht haben, er schrieb an Gott und die Welt, um hochwertige Farben zu kommen, und seine Palette soll immer von mustergültiger Sauberkeit gewesen sein. Einmal, ein fertiges Gemälde betrachtend, soll er gesagt haben: „Es ist besser als die Bilder von Modigliani, besser als die Bilder von Chagall und Krémègne. Eines Tages werde ich meine Bilder zerstören, aber Chagall und Modigliani sind zu feige, um ihre eigenen Werke zu vernichten.“ Und über Cezanne urteilte er: „Ein Maler, der mich nicht bewegt, das ist Cezanne. Das ist vorbei, über diese Phase bin ich hinaus, daran habe ich einmal geglaubt. Ich denke nicht, daß in fünfzig Jahren noch viel davon bleiben wird, das ist zu gekünstelt, gesucht, schwierig, zu sehr Angelegenheit des Verstandes.“ Van Gogh soll er überhaupt gehasst haben.

Soutine, der oft in den Louvre ging, um die Gemälde der Alten Meister zu betrachten, soll andächtig mit gesenktem Kopf und scheuem Blick an den Bildern von El Greco, Courbet, Tintoretto, Goya und vor allem an den Bildern Rembrandts entlanggeschlichen sein. In einer „Art respektvoller Furcht“, wie es hieß, soll er sich den Gemälden Rembrandts genähert haben. „Das ist so schön, daß ich davon noch verrückt werde!“ sagte er zu Chana Orloff, mit der er oft durch den Louvre ging. Soutine vergötterte Rembrandt, fuhr auch nach Amsterdam ins Rijksmuseum, um sich noch andere Bilder, auch Rembrandts geschlachteten Ochsen anschauen zu können. „Die Judenbraut“ im Rijksmuseum war für Soutine ein Pilgerziel. „Rembrandt ist ein Gott! Nein, er ist Gott!“ sagte er einmal. Skeptisch gewordene Museumswärter, denen das seltsame Verhalten Soutines auffiel, folgten ihm und seiner Begleiterin im Louvre argwöhnisch von Saal zu Saal.

Zu seinem Kunsthändler Zborowski sagte er einmal: „Man behauptet, Gustav Courbet habe in einem einzigen weiblichen Akt die ganze Pariser Atmosphäre einfangen können. Ich hingegen kann Paris im Kadaver eines Ochsen zeigen.“ Soutine bat Zborowski, ihn in die Schlachthäuser zu begleiten, denn er wollte einen gehäuteten Ochsen kaufen. Man brachte den Ochsen ins Atelier, aber es dauerte lange, bis Soutine zu malen anfing, so daß der Ochse inzwischen zu verwesen und fürchterlich zu stinken begann. Um die Fleischfarben aufzufrischen, überschüttete Soutine den Ochsen mit frischem Blut, das er eimerweise bei einem Metzger gekauft hatte, und malte weiter. Und Paulette Jourdan verscheuchte dabei die Fliegen. Der seit Tagen anhaltende Verwesungsgeruch des Ochsen beunruhigte die Nachbarn. Die Beamten des Gesundheitsamtes konnte Soutine davon überzeugen, daß seine Malkunst wichtiger sei als die Hygiene. Die Beamten bespritzten das Fleisch mit Ammoniak, damit es sich nicht weiter zersetzte und der Verwesungsgeruch gemildert wurde. Von diesem Tag an hantierte Soutine in seinem Atelier – assistiert von Paulette Jourdain – immer wieder mit Amoniakspritzen, wenn er über eine längere Schaffenszeit mit ihren vielen Pausen hinweg tote Hasen, Enten und Hähne malte. Die wieder und wieder behandelten Enten sollen schon bockig und starr gewesen sein, ohne daß sich aber die Farbe ihrer Federn veränderte; und die von Paulette auf den Abfall geworfenen Tiere vergifteten die fleischfressenden Hunde. Nach einer anderen Anekdote soll beim Wiederauffrischen eines Ochsen – Soutine malte zehn Ochsenkadaver – das Blut von seinem Atelier durch den Fußboden in die darunterliegende Wohnung gesickert sein. Die Concierge habe an einen Mord geglaubt und die Polizei gerufen, die schließlich den Kadaver abschleppen ließ.

Mit seinen farbverschmierten Händen sich über die eigene Kehle streichend, sagte Soutine zu seinem Freund Emile Szittya: „Ich sah einmal, wie ein Dorfschlachter einer Gans die Kehle durchschnitt und das Blut herauslaufen ließ. Ich wollte schreien, aber sein fröhlicher Blick schnürte mir die Kehle zu. Diesen Schrei fühle ich immer noch in mir. Als ich als Kind ein Selbstporträt zeichnete, habe ich versucht, mich von diesem Schrei zu befreien. Bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen, mich davon zu befreien.“ Die jüdische Speisevorschrift, der Begriff des „Koscheren“, schreibt vor, die Tiere mit glatter Klinge, schnell, sauber und möglichst schmerzfrei zu töten, das aus dem Körper fließende Blut sofort zu entfernen, das Fleisch schnell zu verarbeiten. Soutine verletzte die Dogmen des Schtetl, seiner jüdischen Herkunft, hängte die blutigen Tiere, Hähne, Kaninchen, Fasane an Fleischerhaken und studierte sie genau, bevor er den Pinsel in die Hand nahm.  Zborowski erzählte: „Ich muß sagen, Fleisch malt er gut, besonders, wenn er hungrig ist. Haben Sie jemals seinen gierigen Rachen bemerkt? Nun, er kauft ein Stück rohes Fleisch und fastet zwei Tage bei seinem Anblick, ehe er anfängt zu malen. Sehen Sie sich das Rot an: Hat er nicht seinen ganzen kannibalischen Appetit in dieses Rot gelegt?“ Mit  Paulette Jourdain ging Soutine von Fleischhauer zu Fleischhauer und suchte einen ganz bestimmten Kalbskopf. „Verstehen Sie“, sagte er zum Metzger, „ich möchte einen ganz besonderen Kalbskopf.“ Durch die Geflügelläden gehend, suchte er ein ganz bestimmtes Huhn, es musste einen langen Hals und eine bläuliche Haut haben. Ein Geflügelhändler bot dem verwahrlosten und immerzu hungrigen Soutine einmal aus Mitleid ein besonders fettes Huhn an, aber Soutine bestand darauf, ein ausgemergeltes Huhn zu kaufen. Auf der Straße hob er entzückt das Huhn in die Höhe und sagte zu seiner Begleiterin: „Ich werde es gleich am Schnabel  aufhängen, und in ein paar Tagen ist es dann soweit, Paulette.“ Um die Fliegen abzuhalten, hängten im Sommer die Metzger auf der Straße Tücher über ihre geschlachteten Tiere. Soutine nahm im Vorbeigehen die mit Blut befleckten Tücher mit und benützte sie als Hintergrund für seine Bilder. Wenn Soutine einen Seelachs oder eine Forelle malen wollte, ging er morgens um sieben Uhr zu einem bestimmten Zug, der täglich frischen Seefisch anbrachte. Entsprachen die Fische nicht seinen Erwartungen – Soutine schaute sich im Louvre oft die einzigartige „Forelle“ von Gustav Courbet an –, erschien er am nächsten Morgen mit Paulette wieder am Bahnhof beim Ausladen der Meerestiere.

Zur russischen Malerin Marevna, der er in La Ruche begegnet war, sagte Soutine einmal: „Ich male lieber Landschaften als Portraits. Ein Modell ermüdet rasch und sieht dann stupide aus. Also muß man sich beeilen, ich rege mich auf, knirsche mit den Zähnen und fange manchmal zu brüllen an, ich mache die Leinwand kaputt und wälze mich am Boden. Wenn das Modell den Mund hält und sich nicht bewegt, dann geht’s, aber wenn sich etwas ändert, verliere ich die Linie von Nase und Mund – schon geht es wieder nicht mehr. Ich sehe Flammen vor mir, und es brennt. Also brülle ich und werfe alles zu Boden. Das ist dumm, nicht wahr. Ich habe eine Höllenangst. Und wenn das Bild fertig ist, bin ich erschöpft wie eine Frau, die eben ihr Kind bekommen hat. Ich frage mich dann, was mit mir los, warum ich so außer mir bin.“

Chaim Soutine, der die schönsten roten Gladiolen, die schönsten jungen Zuckerbäcker und die schönsten Ministranten der Kunstgeschichte mit dem später so bezeichneten „Soutine-Rot“ malte, ließ sich tagelang in einem Auto durch die Gegend kutschieren, bis er ein passendes Modell gefunden hatte, einmal eine Erstkommunikantin in ihrer vollen weißen Pracht mit einem Kranz gelber Rosen auf dem Haupt, Bäuerinnen bei der Arbeit, Wäscherinnen und Zimmermädchen, Liftboys, Köche und Kellner, Dorfnarren und Idioten, betende Männer und Fürsorgezöglinge, Kinder mit verschmierten Mündern. Einmal wollte er eine Frau porträtieren, die er beim Wäschewaschen entdeckte, als sie gerade vor dem Waschtrog kniete. Soutine stürzte auf sie zu: „Madame, ich habe keinerlei Hintergedanken, verstehen Sie mich, ich bin Maler, ich habe, durch Sie angeregt, ein Bild angefangen, und ich muß es zuende bringen.“ Ihr eifersüchtiger Mann, ein Bahnwärter, wollte es verhindern. Soutine drohte dem Mann, daß er ihn gerichtlich belangen werde. Der eingeschüchterte Mann lenkte ein, die Frau kam, und es entstand das legendäre Bild „Liegende Frau“.

Soutine, der sich selber nur dreimal portraitiert hatte, verbrachte auch viel Zeit, ohne zu arbeiten, malte stoßweise, besuchte Museen, las viel und wartete, bis ihm ein Objekt über den Weg lief. Einmal, es war gerade in der Zeit seiner Schaffenspause, ging eine Frau an ihm vorüber, die ein Kind auf ihren Armen trug. Er überwand seine Schüchternheit, folgte ihr und bot ihr Geld an, soviel sie haben wollte, um sie malen zu können. Ein anderes Mal, als er im Freien eine Frau porträtierte, soll er während eines aufkommenden Gewitters weitergemalt, der Frau verboten haben, sich zu rühren, und  hinterher soll er völlig überrascht gewesen sein, als ihm auffiel, daß er und sein Modell bis auf die Haut durchnässt waren. Einmal wollte Paulette Jordain eines der sechs Portraits sehen, die Soutine von ihr gemalt hatte und die er immer versteckte. Soutine drehte die Staffelei um, die sechzehnjährige Paulette erschrak, denn er hatte das Mädchen als alte Frau gemalt. Ein Modell Soutines aus den frühen Pariser Jahren beschrieb den Maler so: „Er wurde krebsrot und riß die Augen weit auf, mit seinen schönen Fingern kraulte er sich den Hals und streichelte sein Gesicht. Mit zusammengebissenen Zähnen stammelte er unverständliche Worte und begann zu malen.“ Einmal verrenkte er sich bei seinem wilden, ekstatischen Malen einen Daumen und konnte sich hinterher nicht erklären, wie es passiert sein konnte. Manchmal wurde er auch ohnmächtig neben einem fertigen Bild gefunden. Wenn er eine Sitzung mit einem Modell beendet hatte, brauchte er jedes Mal mehrere Stunden, um seine Sprache wieder zu finden. Er konnte es nicht ertragen, wenn ihm jemand beim Malen zuschaute. Mlle. Garde, mit der Soutine vier Jahre lang zusammenlebte und die ihn häufig auf seinen Malausflügen in die ländliche Umgebung von Paris begleitete, erzählte: „Er war so unsicher in Bezug auf ein fertiges Bild, daß er so weit ging, mir – wenn wir gerade nicht zusammen waren – einen Brief zu schreiben oder mir zu sagen, daß ich mir die unfertigen Bilder in seinem Atelier nicht ansehen solle.“ Soutine wollte auch über seine Werke nicht sprechen, gab vor, sich nur schlecht auf Russisch oder Französisch ausdrücken zu können, und sagte einmal, um keinem Kommentar über seine eigenen Bilder abgeben  zu müssen: „Ich spreche keine Sprache.“

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