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maurice de martin: un.recherche

UN.Recherche und das „Künstlerische Interview“

Ich fasse die Eigenheiten u. damit auch die Unterschiede der drei von uns nacheinander innerhalb eines Jahres besuchten UN-Sites (Wien-NYC-Nairobi) anhand dreier virtueller Aussagen zusammen.

Drei Orte erklären sich uns

Wien: “I’m an autonomous entity based on an island with a hidden inside-complexity that reveals itself only through detail-observation.”

NYC: “I’m a multiple personality amongst many others around me and I know it.”

Nairobi: “I’m a resort-like campus designed for experimental interaction between synthetic structures and natural presences on many levels.”

Make up your own mind

Am Anfang unserer Recherche stand das gemeinsame Interesse, mehr über das Phänomen global-organisatorische Strukturen am Beispiel der UN erfahren zu wollen und sich dabei zu fragen, was jenseits der Mainstream-Informationsfülle liegen könnte, welche die Medienlandschaft als “telematische Alltagsroutine” über die UN täglich an uns heranträgt. Stattdessen wollten wir uns in die experimentelle Lage versetzen, durch eine aktiv-physische und gleichzeitig betont unvoreingenommene Annäherung an die UN ein detailliertes u. gleichzeitig “selbst-erfahrenes” Bild von dieser hochkomplexen organisatorischen Entität zu generieren. Andererseits interessierte uns gleichermaßen die lokale Verortung der tatsächlichen UN-Gebäudekomplexe innerhalb ihrer jeweiligen “Host-Communities”, ihr “ästhetisches Erscheinungsbild” im Kontext ihrer unmittelbaren Umgebung und ganz besonders die Frage, welche unterschwelligen Durchlässigkeiten in der physischen wie auch metaphysischen Abgrenzung zwischen Drinnen (=UN-Compound) und Draußen (=Nachbarschaft) sich beim näheren Hinsehen zeigen würden.

 

Ein komplexer Prozess als besondere Form der “Appropriation-Art”

 Durch eine engagierte Langzeiterkundung auf Basis des Artistic Research wollten wir verborgene (UN.known) Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede zwischen den einzelnen Amtssitzen u. ihren Host-Communities herausarbeiten und diese uns “aneignen”, indem wir die erfahrene Erkenntnis in künstlerische Narrative übersetzen. Dazu nutzten wir Reflexionsmethoden aus der Grauzone zwischen den Wissenschaften und Künsten, als auch unsere eigene, individuelle Lebens-Erfahrung im Umgang mit situativer Beobachtung, zwischenmenschlicher Interaktion und derer Dokumentation.

Subjektive Recherche & engagierte Selbstinterpretation

 Im Rahmen der drei Recherchephasen von UN.Known Spaces kam es zu einem Zusammenspiel von extrem unterschiedlichen Arbeitsmethoden, in das auch Komplexe des “Gespürs”, des Zufalls und der Improvisation hineingespielt haben. Unserer “Methodenmix” hat sich hierbei nicht nur dynamisch an die jeweilige, einzigartige Situation in Raum, Zeit u. Gegenüber angepasst, sondern das jeweilige “Recherche-Happening” durch bewusste “Gesten u. Aktionen” immer wieder auf bestimmte Art und Weise provoziert u. dadurch auch “komponiert”.

Diese Haltung erlaubte es uns, in unserer künstlerischen Forschungsstrategie eine “Kultur der dezidierten Flexibilität” zu etablieren und dadurch die fast schon unüberschaubar-komplexen Strukturen und gleichzeitig einmaligen Situationen innerhalb unserer “Beobachtungsräume” künstlerisch “erfahrbar” und dadurch auch übersetzbar zu machen.

Es kam im Kontext unserer Recherche innerhalb als auch außerhalb der UN-Compounds zu einer Anzahl von jeweils 22 Gesprächen pro Recherchephase (66 insgesamt), die ganz bewusst auf einer eher informellen Ebene stattgefunden haben und in ihrer Ergebnisvielfalt u. Informationstiefe die Vielschichtigkeit menschlicher Biographien einerseits und organisatorischer Strukturen anderseits beispielhaft erfassen wollten.

Im Zentrum dieser Zusammentreffen mit Personen aus dem Kontext der UN-Hauptquartiere stand konkret die Durchführung u. Dokumentation zweier “komponierter Handlungen”:

 

  1. Das künstlerische Interview

Über die Form eines herkömmlichen Interviews sind wir auf unsere Gesprächspartner zugegangen. Dieses beinhaltete einen klassischen Fragebogen der als “Grundlage” für ein eher informelles Gespräch diente. Die Führung des Interviews sollte ganz bewusst Freiheiten zu Exkursen “rechts u. links” vom Fragekatalog suggerierten. Im Laufe des Gesprächs kam es so zu einer Art “engagierter Selbstinterpretation jenseits des Protokolls” durch den Gesprächspartner, die auf einer sich oft recht schnell bildenden Vertrauensbasis zwischen den Anwesenden basierte. Die Tatsache, dass wir uns von Anfang an dezidiert als Künstler zu erkennen gaben, hat uns bei der Erzeugung dieser besonderen Gesprächsatmosphäre sehr geholfen. Jedes Einzelne unserer insgesamt 66 Interviews zeichnet sich durch einen ganz bestimmten Moment aus, an dem die Kurve der Informationsdichte unerwartet hoch “nach oben ausschlägt”. Durch diese “Abweichung” vom geplanten Gesprächsverlauf haben wir nicht nur eine Vielfalt verborgener Expertise als “Narrative” übermittelt bekommen, sondern diese “Singularitäten” haben gleichfalls nachhaltig in die “Komposition” unseres Werkes hineingewirkt. Gerade darauf kam es uns an. So bilden diese Momente auch die Grundlage des auditiven Parts unserer finalen Installation.

 

  1. A spontaneous-layed-out Life-Map

Am Ende jedes Interviews haben wir unsere Gesprächspartner angeregt, sich in unserer Begleitung auf ein “künstlerisches Experiment” einzulassen und damit aktiv am gerade entstehenden Kunstwerk teilzunehmen.

Das Experiment bestand aus einer “Subjektiv Life-Map”. Hierbei baten wir die Interviewpartner/innen, anhand einer spontanen Positionierung der sich gerade vor ihnen befindlichen Objekte (meist auf dem Schreibtisch) ihre Lebensgeschichte als Geste u. zugleich verbal zu erzählen. Diese Situationen haben wir mit Fokus auf die sich bewegenden Hände als Videos-Aufnahmen festgehalten. Die Gesamtheit von 66 Miniatur-Filmen bildet die Grundlage für den videographischen Anteil unserer finalen Installation.

Innerhalb des ersten Projekt-Abschnitts Recherche, haben wir in den vergangenen zwei Jahren die UN-Amtssitze in Wien, New York City u. Nairobi für jeweils zwei Wochen besucht.

Unter den beschriebenen Vorsätzen ist es uns gelungen, ein fulminantes, interkontinentales (Europa-Amerika-Afrika) Archiv an Artefakten mannigfaltiger Natur zu generieren: Texte, Bilder (bewegte u. statische), Klänge u. Geräusche, Stimmen, Objekte, Daten, aber auch subjektive Eindrücke, Meinungen, Atmosphären, Ideen…

 

Das Archiv als künstlerische Installation

Mit diesem Archiv von Artefakten als Ausgangsmaterial werden wir im nun folgenden Projektabschnitt Übersetzung u. Präsentation ein künstlerisches Werk erschaffen, das in Form einer multimedialen Installation mit performativem Anteil zum ersten mal im Mai 2013 auf dem Donauturm zu Wien ausgestellt werden wird. Wir planen, diese Arbeit im Folgenden in den “Host-Communities” der UN-Hauptquartiere in NYC, Nairobi u. Genf zu zeigen, sowie auch in unserer Heimatstadt Berlin.

Der auditive Part -eine Mehrkanal-Komposition mit einer Auswahl der “Gesprächs-Singularitäten”- als auch die Video-Installation mit ihren Hand-Miniaturen bilden hierbei einen unveränderlichen und gleichzeitig gleichwertigen Counterpart zu einem performativen Teil, den wir jeweils in direkter Kooperation mit den Menschen vor Ort Site-Specific entwickeln u. realisieren werden.

In Wien kommt es hierbei zur besagter Multimedia-Installation mit einem “Live-Übersetzerfeedback”, in New York City soll es zu einem Workshop für UN-Mitarbeiter in Kooperation mit Experten aus der Umgebung kommen und in Nairobi planen wir eine Avantgarde-Fashion-Show mit gefälschter-Militär-Blaskapelle auf dem Dach des KICC (Kenya-International-Conference-Center)

Parallel zu den Ausstellungen in NYC u. Nairobi (Winter 2013 u. Frühjahr 2014) werden wir mit der Arbeit zu unserer nächsten Projektphase “Fieldwork” beginnen. Hierzu planen wir, als “künstlerische Helfer” im Rahmen einer UN-Mission unmittelbar aktiv zu werden.

Die Dokumentation des Gesamtprojekts mit Publikationen (Buch u. DVD) u. finalem Symposium soll im Winter 2015 in Genf stattfinden.

 

UN.Expected Results

 Im Rahmen unseres Projekts hat sich erst durch den Arbeitsprozess per se  ein weiteres, gänzlich ungeplantes Ergebnis manifestiert: Die konkrete Möglichkeit, innerhalb zweier komplexer Systeme (eines Formal-Bürokratischen u. eines Informell-Alltäglichen) durch künstlerische Arbeit ein globales Netzwerk zwischen Experten zu erschaffen, das auf gegenseitiges individuelles Interesse basiert und über einen informellen Austausch von Expertise seine Synapsen immer wieder neu verknüpft. Dieses Phänomen hat sich ohne bewusste Vorplanung in der Projektarbeit der letzten zwei Jahre herausgeschält und dadurch ist “wie von selbst” im Rahmen unseres Projekts eine Plattform der alternativen Interaktion zwischen Individuum in Auseinandersetzung mit immer komplexer u. größer werdenden Organisationsformen bzw. auch alltäglicher Lebensformen entstanden.

Man könnte die Evolution des Menschen beschreiben als eine allmähliche Annäherung vom rein informellen-Singulären an einen Zustand der totalen Kristallisation (hier Erstarrung meinend) des Formal-Universellen in allen Bereichen des Lebens. Ein zentraler Erkenntniswert der vielen von uns geführten Interviews ist, dass sich Menschen (egal mit welchem sozialen bzw. kulturellen Background) heute bei der Interaktion mit großformatigen Organisationsstrukturen immer mehr wie Fliegen im Netz der Spinne fühlen.

Es erscheint uns deshalb, es sei nun an der Zeit, uns wieder vom Neuen dem Phänomen der informellen Interaktion zwischen Individuen zuzuwenden. Alternative Modi der Interaktion zwischen Individuum und organisatorischen Strukturen zu finden, erscheint uns -gerade über unsere Erfahrungen im Rahmen unseres aktuellen Projekts- eine der großen gegenwärtigen Aufgaben zu sein.

Die raumzeitliche Situation überwuchert das Protokoll

Maurice de Martin, Nairobi/Berlin 01/2013