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maurice de martin: der augenblick

Einige Gedanken über den Film „Monde“ von Ursula Mihelic und Katharina Klement

Draußen vor dem Fenster zieht einer dieser massiven Berliner Herbststürme vorbei. Ich wollte eigentlich auf den Teufelsberg laufen, um von dort die spektakulären Wolkenbewegungen über der Stadt zu beobachten. Nachdem ich aber Online gelesen hatte, dass der Sturm drohe anzuschwellen und mit umstürzenden Bäumen gerechnet werden müsse, bleibe ich doch lieber zu Hause und widme mich der Reflexion eines Films, den ich unlängst in der Zacherlfabrik in Wien gesehen habe und der mich sehr bewegt hat.

Dieser Film „Monde“ der beiden österreichischen Künstlerinnen Ursula Mihelic und Katharina Klement ist ein Portrait ihrer beiden Väter. Der Eine steht trotz fortgeschrittenen Alters und Schwerhörigkeit energetisch mitten im Leben und begibt sich im ersten Part des Films in Begleitung der beiden Frauen auf die Suche nach den Orten seiner Vergangenheit im heute von der Moldau überfluteten Grenzland. Die Komponistin und C-­‐Autorin Katharina Klement versucht dabei, ihrem Vater auf klanglicher Ebene näherzukommen.

Der andere Vater vegetiert im Altersheim vor sich hin und spricht nicht mehr. Der zweite Teil des Films beschreibt die traurige Geschichte dieses Mannes im gegenseitigen Fremdsein mit seiner Familie. Seine Tochter versucht ihm anhand des filmischen Portraits mit künstlerischen Mitteln nahezukommen und die Grenzen der Sprachlosigkeit auf subtile und gleichzeitig radikale Art zu überschreiten.

Dieses Unterfangen führt die Regisseurin und Tochter Ursula Mihelic immer wieder in die unmittelbare Nähe ihres schwerkranken Vaters. Man spürt sofort, dass die Annäherung an diesen Mann extrem schwierig gewesen sein muss. Der Vater starrt vor sich hin und die Familienmitglieder beschreiben Episoden ihrer finalen Resignation in Bezug auf einen möglichen Frieden mit ihrem Vater/Mann. Da wurde geschlagen, gesoffen und gehasst. Er wird von den Kindern und seiner Frau als notorischer Egoist beschrieben. Man wünscht ihm eine baldig finale Erlösung nach fünf Schlaganfällen.

Währenddessen sitzt der zahnlose Ex-­‐Macho in einem Rollstuhl und schweigt. Niemand besucht ihn mehr regelmäßig, außer seiner Tochter, nun im Rahmen dieser Ahnenforschung am lebenden Objekt. Ich erinnere mich an eine Fotografie von Nietzsche, die ihn in einem großen Ohrensessel sitzend und mit starrem Blick als lebendes Exponat in seinem eigenen Museum in Naumburg zeigt. Die einzigen Regungen im starr-­‐leeren Blick des Vaters ereignen sich, als dieser von einer Musiktherapeutin mit einer Klangschale behandelt wird. Diese klangliche Zuwendung scheint ihm temporäre Entspannung zu verschaffen.

Da gibt es dann aber auch noch diesen einen Moment in der Mitte des Films, der mich zutiefst berührt hat. Die Regisseurin und Tochter sitzt hierbei neben ihrem Vater, der zuvor wie immer auf seinem Rollstuhl in den Raum gefahren wurde. Er sitzt ganz nahe neben ihr und starrt in eine von außen nicht zu definierte Leere.

Sie schlägt ihr Notizbuch auf und liest ihm daraus vor. Es ist ihr Vorhaben, Ihren Vater genau mit dem zu konfrontieren, was anscheinend schon lange einer verbalen Vermittlung harrt. Es kommt in wenigen Sätzen all das zur Sprache was in so vielen Situationen zwischen Kindern und Eltern immer wieder so unglaublich unangenehm erscheint. Es zwickt gewaltig, ist fast schon peinlich und ich fühle, wie sich die Vorleserin extrem zusammenreißen muss. Man kann nur erahnen, ob der Vater nun zuhört, ob er etwas vom geagten versteht oder doch nicht.

Dann dieser eine Moment: Er dreht sich zur Tochter hin und schaut sie unvermittelt an. Sein Gesicht bleibt dabei unverändert. Aber in seinen Augen regt sich etwas, was mir als außenstehenden Betrachter des filmischen Ereignisses nur sehr schwer beschreibbar erscheint, sich aber gleichzeitig intensiv ins Gedächtnis eingebrannt hat.

Es ist wie ein Schock. Des Vaters Blick klärt sich für einen Moment auf. Er scheint das Gesagte zu verstehen und wendet sein Blick aus der Leere weg auf seine Tochter. Genau dieser Augenblick gibt mir ein unlösbar erscheinendes Rätsel auf. Hat er das Gesagte verstanden und will nun sagen: „Warum tust Du das? Du quälst mich doch, siehst Du das nicht?“ Oder: “ Wir wissen es doch beide ganz genau und ich bin so unendlich traurig, dass ich nicht fähig bin, die Vergangenheit zu ändern!“ Oder einfach: „Danke, Du hast mich befreit, ich kann zwar nichts sagen, aber jetzt ist es endlich raus!“ Oder vielleicht eben doch: „Du blöde Kuh hast gar kein Ahnung von dem, was mir passiert ist!“ Oder ist das alles doch nur eine Illusion und ich interpretiere in seine gefühlte Geste der Zuwendung etwas hinein, was ich in dieser Situation an Ursulas Stelle selbst gerne erfahren hätte?

Die künstlerisch-­‐filmische Kraft dieses Moments manifestiert sich für mich in der Tatsache, dass man diesen Blick nicht erklären, sondern sie nur intuitiv deuten kann. Er ist eine dokumentarische Intensivierung einer real stattfindenden Situation zwischen zwei Menschen, die gerade dadurch über sich selbst hinauswächst, indem sie mich als Betrachter mit einem Fragezeichen konfrontiert, das gleichzeitig eine extreme Nähe in der emotionalen Teilhabe wie auch eine Ferne im logischen Verstehen herstellt.

Dieser Augenblick ist extrem klar und gibt ein gleichzeitig unlösbar erscheinendes Rätsel auf. Er bezieht den Betrachter aktiv in die Realität mit ein, indem er ihn subtil auffordert, für sich selbst eine Lösung des Problems finden zu müssen. Dies funktioniert nur, weil der Film den Moment ohne Kommentar praktisch „ausstellt“.

Genau dies ist für mich Kern der „Aura“ eines Kunstwerks, wie sie von Walter Benjamin beschrieben wird. Da ist eine Realität, die jeglicher klarer Definition spottet und den Moment gleichzeitig in unendliche Nähe wie auch unendliche Ferne rückt. Dieser Augenblick ist nicht „verfügbar“ und trotzdem bzw. gerade deshalb rüttelt er am Kern der Verbindlichkeit. Er zeigt etwas ganz klar, was meiner Logik aber gleichzeitig verschlossen bleibt.

Für die Kunst ist dies ein Moment der glücklichen Fügung, denn in diesem Nicht-­‐ aufgelöst-­‐Sein steckt eine Hoffnung, die mich als Betrachter in Bewegung setzt und mir genau diese Situationen symbolisch vorführt, die ich vielleicht selbst gerne mit meinem Vater erleben möchte, solange er noch da ist. Wie es der französische Philosoph J.-­‐F. Lyotard beschreibt: „Der Wert eines Kunstwerks oder eines Werks des Denkens hängt von seiner Fähigkeit ab, Zukunft zu generieren“.

In diesem Sinne möchte ich den beiden Autorinnen meinen Glückwunsch aussprechen. Ihr habt da etwas geschaffen, was Hoffnung generiert. Nicht nur Hoffnung für Euch, die Macher, sondern potentiell für jeden anderen, der Euer Werk betrachtet. Hoffnung hat immer etwas mit einer möglichen Zukunft zu tun.

Vielleicht ist es gerade die Kunst, die Erkenntnis durch die Qualität der Hoffnung bereichern kann.

Maurice de Martin, Berlin, 29.10.2013