Login
contact
imprint

über degas

„Ah, diese viehische Kunst“

„Ein Bild ist ein künstliches Werk, das nichts mit der Natur zu tun hat und das sowohl höchste Raffinesse,  als auch das Ausüben eines Verbrechens erfordert.“

Edgar Degas

„…dann das große Wort: Das ist obszön! Wenn es je Werke gab, die es so wenig waren, Werke ohne verzögernde Rücksichtnahme und ohne Hinterlist, ganz und entschieden keusch – dann sind es diese hier! Sie verherrlichen sogar die Verachtung des Fleisches, wie es seit dem Mittelalter kein Künstler gewagt hatte.“

Joris Karl Huysmans über Edgar Degas

DER ERSTE TAG

– „Verdammt noch mal! Posieren Sie heute aber schlecht!“ rief der mürrische, fast schon erblindete Degas, der keine Farben mehr unterscheiden konnte, die Faust auf den Modellierblock schlagend. „Wenn Sie müde sind, sagen Sie es doch!“

– „Ja, ich bin müde!“ sagte die nackt vor dem Künstler posierende 25jährige Pauline.

Kurze Zeit später, nach dem sich Pauline ein wenig ausgeruht, ihre steif gewordenen Beine gestreckt und massiert hatte, zum offenen Feuer des  Kamins gegangen war, um sich aufzuwärmen,  wieder aufs Podest gestiegen war, um die Pose einzunehmen, mokierte er sich weiter:

– „Mehr Haltung! Heben Sie den Fuß hoch! Den Oberkörper gerader! Lassen Sie sich nicht so gehen! Wie oft soll ich das noch sagen! Den Oberkörper besser durchstrecken!“

Obwohl Degas neben Pauline saß, sah er mit seinen hinter dem verschmierten Binokel zusammengekniffenen Augen ihren Körper so schlecht, so daß er mit der Hand die Linie ihrer Hüften berühren oder einen Muskel ertasteten mußte, um dann mit seinem Daumen die Paste an der Statuette modellieren zu können. Wenn er ihr Gesicht oder ihren Körper befühlte, hinterließen seine mit grünlichem Plastilin beschmierten Finger Spuren klebriger Farbtupfer auf ihrer Haut. Als nach einiger Zeit Pauline die Hoffnung hatte, daß sich die Laune des Meisters, da er eine Zeitlang schweigend modelliert, auch gebessert hatte, da schlug er überraschend  mit seiner Faust auf ihren nackten Rücken, so daß sie beinahe zu Boden gestürzt wäre und schimpfte:

– „Sie posieren so schlecht, daß Sie mich vor Wut noch ins Grab bringen werden!“

– „Aber Monsieur Degas, Sie sind der einzige, der zu mir sagt, daß ich schlecht posiere!“ antwortete die gedemütigte und gekränkte Pauline. Nach längerem Schweigen, nachdem er, um nicht zuviel teures Plastilin zu verwenden, Talg und Korkstücke in die Statuette gesteckt hatte, sagte er:

– „Pauline! Wie oft stehen Sie eigentlich nachts auf, um zu pinkeln?“

– „Ich, Monsieur Degas? Nie! Wirklich nie!“

– „Ah! Wie schön ist doch die Jugend! Nicht zum Pinkeln aufstehen müssen. Ich stehe in der Nacht mindestens sechsmal auf. Ja, sechsmal, glauben Sie mir, Pauline. Aber heute Nacht musste ich nur zweimal aufstehen. Die gute Zoé macht mir jeden Tag den Kräuteraufguß mit Kirschstengeln, das beruhigt mich, das lindert meine Schmerzen!“

– „Ist es immer noch Ihr Blasenleiden, das Sie so plagt, Monsieur Degas?“ fragte die nackte Pauline.

– „Aber ja! Wenn ich nur keine Untersuchung mit der Sonde über mich ergehen lassen muß, das ist sehr schmerzhaft, und ich habe schreckliche Angst davor.“

Nachdem über zwei Stunden um, der Maler und sein Modell erschöpft waren, hüpfte Pauline vom Podest, schlüpfte in ihre Pantoffeln und ging, obwohl sie nackt vor ihm posiert, aber wie es der Meister immer gewünscht hatte, nicht vor den wärmenden Kamin, sondern hinter den Wandschirm, zog sich die lavendelfarbenen Strümpfe, die lachsfarbene Unterhose und den weißen Büstenhalter an, streifte das kaltgewordene blauweiße, an den Rändern mit rosafarbenen Rüschen verzierte Kleid über ihren Kopf und setzte sich vor den Spiegel. Überall lag Staub, alle Möbelstücke waren schwarz vor Staub, auch der vergoldete Rand des Spiegels. Edgar Degas erlaubte seiner Haushälterin Zoé Closier, einer sechzigjährigen, dicklichen, weißhaarigen Frau, in diesem Arbeitsraum, der vollgestellt war mit Bilderrahmen, fertigen und halbfertigen Pastellzeichnungen, ineinander gehackter Stafetten, Wandschirmen und einer Badewanne, die dazu diente, die Modelle für Badende posieren zu lassen, nur das Feuer im Kamin anzumachen und ein wenig um den Modellierbock und vor dem Kamin den Aschestaub zu entfernen. Seit Jahren hatte sich überall  Schmutz angesammelt. Er behauptete, daß der Staub beim Fegen ohnehin nur aufgewirbelt wird, aber in Wirklichkeit hatte er Angst, daß seine vielen herumstehenden und herumhängenden Bilder, Statuetten und Gipsfiguren  durch eine Ungeschicklichkeit beim Reinigen beschädigt werden könnten. Als Pauline ihn einmal bat, sich ihre vom Berühren der Möbelstücke schwarz gewordenen Hände waschen zu dürfen, antwortete er mürrisch, daß es eine lächerliche Manie sei, ständig im Wasser zu plantschen. Auf dem ebenfalls staubigen Marmorspiegeltisch lag brückenförmig der gebogene Haarkamm, eine langborstige Haarbürste lag mit ihren igelstachelartigen Spitzen nach oben  auf der gescheckten Marmorplatte. Neben dem Kamm und der Parfumflasche lag eine ungekämmte, zweisträhnige rotbraune Perücke. Nachdem Pauline ihre Frisur, ihren kurzen, nur bis zum Anfang der Wirbelsäule reichenden Haarzopf gerichtet, auch die Ohren von den fransenartig und geringelt herunterhängenden Haaren befreit, den dunkelbraunen Hut aufgesetzt und mehrmals eingerichtet hatte, der über der mehrere Zentimeter breiten Krempe mit einem blauweißen Band umwickelt, an dem eine rosarote, schon ein wenig ausgefranste Kunststoffrose angenäht war, ging sie noch einmal zum Meister, der noch lange, mit kritischem Blick und schweigsam, in sich versunken die Statuette betrachtete, an der er an diesem Vormittag weitergearbeitet hatte. Aufgeschreckt von Paulines Auftauchen, gab er ihr zögerlich die klebrige, mit grünem Plastilin bepickte Hand und sagte:

–  „Bis Morgen, Pauline. Lassen Sie sich von Zoé Ihre hundert Sous geben.“ Die Haushälterin Zoé, die dem fast erblindeten Degas Briefe und Zeitungsartikel vorlesen musste, sagte tröstend zu Pauline, die sich immer wieder wegen seinem ruppigen Umgangston überlegt hatte, ihm den Rücken zu kehren und nicht wieder in sein Atelier zu kommen:

– „Sein Blasenleiden macht ihm zu schaffen, es schläft deswegen auch schlecht, deshalb hat er oft schlechte Laune. Gestern Morgen hat er mich, weil das Feuer im Kamin nicht richtig gebrannt hat, so schäbig behandelt, so daß ich regelrecht weinen mußte. Seit fast zwanzig Jahren arbeite ich bei ihm, und ich tue alles, um ihn zufrieden zu stellen.“

– „Seine Kunst bedeutet ihm alles!“ antwortete Pauline. „Einmal ist er in seinem Arbeitszimmer der Länge nach aufs Parkett gefallen, er hat sogar die Staffelei mitgerissen. Ich war ganz nackt. Ich bin hingelaufen zu ihm und wollte ihm helfen, aber er hat mich abgewiesen und gerufen: ‚Lassen Sie mich! Heben Sie zuerst die Zeichnungen auf!’“

 

DER ZWEITE TAG

Am nächsten Morgen begab sich Pauline wieder pünktlich in die Rue Victor-Massé, Hausnummer 37. Sie setzte sich zuerst vor den Spiegel, hob ihren Kopf, betrachtete lange ihre blonden Augenbrauen, die ungeschminkten Augenlider, schaute auf die Pupillen ihrer braungrünen Augen, biß sich auf ihre ungeschminkten Lippen und hörte als Wiederhall vom Vortag die mürrische Stimme des Meisters: „Verdammt noch mal! Posieren Sie heute aber schlecht! Mehr Haltung! Wie oft muß ich es noch sagen! Heben Sie den Fuß höher! Noch höher, so hoch, so daß Sie Ihre eigenen Fersen sehen können! Wenn Sie so weitermachen, werden Sie mich noch ins Grab bringen! Und dafür soll ich Sie auch noch bezahlen!“ Pauline wagte es nie, ihre Lippen zu schminken, das konnte der Meister nicht leiden, denn nicht nur einmal sagte er zu ihr, daß sie sich nicht die Lippen schminken, sich nicht nach der letzten Mode frisieren, sich nicht verunstalten solle. Trotz seines schlechten Augenlichtes – „Kommen Sie her, Pauline“, sagte er einmal in einem traurigen Tonfall, „welche Farbe hat dieser Pastellstift?“ – fiel ihm einmal auf, daß sie ihre Haare besonders schön gekämmt und gebürstet hatte. Er fuhr mit seinen Händen grob durch ihr Haar, riß an den  Haarsträhnen und rief verärgert: „Wenn man jung und frisch ist wie Sie, hat man es nicht nötig sich aufzutakeln. Bleiben wenigstens Sie natürlich, Pauline!“ Andererseits erzählte man auch, daß er manchmal stundenlang mit glücklichem Gesichtsausdruck das Haar seiner Modelle gekämmt haben soll. Einmal soll er sogar die Familie seines Freundes in Unruhe versetzt haben, als er in einem gespreizt förmlichen Brief um die Erlaubnis bat, die Witwe des Komponisten Georges Bizet, die jetzige Frau seines Freundes, mit offenem Haar sehen zu dürfen. Immer noch vor dem Spiegel sitzend – die Perücke hatte man inzwischen vom Spiegeltisch genommen, die Haarbrüste lag nicht mehr mit den Spitzen der steifen Wildschweinborsten auf dem Marmortisch, sondern mit ihrer glattgeschliffenen und lackierten Holzseite -, nahm Pauline vorsichtig den Hut vom Kopf – ein paar Haare blieben im blauen, seidenen  Innenfutter  hängen -, öffnete den Haarknoten und ging hinter den Wandschirm. Sie knöpfte ihr Kleid auf, öffnete ihren Büstenhalter, streifte, mit ihren Fingerspitzen unter den Gummi fahrend, ihre Unterhose über die Oberschenkel, rollte ihre Strümpfe von den Oberschenkeln zu den Unterschenkeln hinunter, zog so schwungvoll bei den Zehen an den verstärkten Spitzen, so daß sie für einen Moment taumelte, beinahe zu Boden gestürzt wäre und huschte schließlich nackt zum wärmenden Kamin hin. Hinter ihrem Rücken knisterte laut das harzige Holz, Funken sprühten und spritzten,  Pauline entfernte sich, vor Kälte die Gänsehaut ihrer nackten Arme und ihre Brüste streichend, einen Schritt vom Ofen, da sie Angst hatte, daß die Funken des harzigen Holzes auf die Haut ihres nackten, immer noch fröstelnden Körpers spritzen könnten. Im Hintergrund hörte Pauline das Kratzen des Pastellstifts auf dem Papier. Der Meister war schon bei seiner Arbeit. Ihre Kleider lagen auf dem Stuhl hinter dem Wandschirm, sorgfältig und keusch hatte sie die Unterwäsche und die Strümpfe unter dem blauweißen Kleid versteckt, das sie auch am Vortag getragen hatte. Sie durchquerte das Arbeitszimmer und stieg auf den Modelltisch. Nachdem der Meister noch ein paar Schaufeln Eierkohlen in den Kamin geworfen hatte, ging er mit schnellen Schritten, von den Zipfeln seines langen, grauen Malerkittels umflattert, über den knarrenden Holzboden zu seinem Arbeitssessel zurück.

– „Nehmen Sie die Pose ein, meine Liebe!“ Er ging zwischen Pauline und der Statuette hin und her, um mit seinen Fingerspitzen ein Detail ihres nackten Körpers nachzufahren, das er dann in das Plastilin modellierte. Sein Augenlicht war schon so schlecht, so daß er ganz nahe an seine Figur herantreten musste, seine langen weißen Haare berührten dabei die Plastilinstatuette. Während er die nackte Pauline vorsichtig, respektvoll und unaufdringlich berührte, sagte er:

– „Ah, mein gutes Mädchen, es ist doch grässlich, nicht mehr klar sehen zu können! Seit Jahren schon hätte ich mit dem Zeichnen und Malen aufhören und nur noch modellieren sollen. Aber wenn mein Augenlicht noch schwächer wird, werde ich nicht einmal mehr modellieren können. Wie soll ich dann meine Zeit totschlagen? Ich werde vor Langweile und vor Überdruß sterben.“

– „Aber nein, Monsieur, Degas, Sie werden nicht erblinden, haben Sie keine Angst. Ihre Augen sind müde von der winterlichen Kälte. Sobald wieder schönere Tage kommen, werden Sie sich besser fühlen und wieder besser sehen können!“

– „Wirklich, glauben Sie, Pauline? Gerne möchte ich Ihnen glauben, mein liebes Mädchen! Oh Herr, was habe ich getan, daß du mich so strafst? Mein ganzes Leben war der Arbeit gewidmet, und nie habe ich nach Ehre oder Geld getrachtet!“

– „Haben Sie keine Angst, Monsieur Degas, auch Ihr Arzt wird Ihnen sagen, daß Sie für Ihre sechsundsiebzig Jahre noch sehr rüstig sind. Sie arbeiten doch jeden Morgen, ohne sich zu schonen, selbst an Sonn- und Feiertagen gönnen Sie sich keine Ruhe. Viele junge Künstler arbeiten nicht soviel wie Sie. Ich weiß es, Sie sind nicht der einzige, bei dem ich posiere. Außerdem haben sie einen gesunden Appetit, Sie verdauen gut, Sie haben einen gesunden Schlaf, und Sie werden nicht von Rheuma geplagt wie ihr alter Freund, Monsieur Rouart! Erzählen Sie mir also keine Märchen, Monsieur Degas, Sie springen doch immer noch wie ein Hase durch die Gegend! Erst kürzlich habe ich Sie in der Nähe des Moulin Rouge gesehen. Ganz schnell sind sie die Rue Lepic hinaufgegangen, so schnell und schwungvoll, so daß ich mit meinen jungen Beinen die größte Mühe hatte, Sie einzuholen.“

– „Aber meine liebe Pauline, Sie vergessen mein Blasenleiden!“

– „Das kommt davon, wenn man in seiner Jugend allzu oft über die Stränge geschlagen hat!“ sagte Pauline scherzend und schelmisch lächelnd.

– „Glauben Sie wirklich, daß mein Blasenleiden daher kommt, weil ich es in meiner Jugend zu arg getrieben habe? Die jungen Leute müssen sich nun mal die Hörner abstoßen! Wir haben alle diese Krankheit gehabt, und sind nicht daran gestorben.“

– „Das haben Sie mir schon öfter bei unseren Sitzungen erzählt, besonders dann, wenn Sie lustig und heiter waren.“

– „Es stimmt schon, mich hat es immer wieder gejuckt wie alle jungen Leute, aber ich habe es nie wirklich arg getrieben“, sagte er lachend und kratze seinen schütteren Bart.

– „Das glaube ich Ihnen nicht so recht, Monsieur Degas, wer weiß, vielleicht treiben Sie sich, während Zoé schläft, heute noch auf der anderen Straßenseite herum, bei diesem grellen  Tingeltangel und tanzen bis weit in die Nacht hinein!“ sagte Pauline zum erstaunt, aber amüsiert aufschauenden, sich von der Statuette abwendenden Edgar Degas.

– „Und außerdem Monsieur Degas, ich kenne Sie seit langem, ich verlasse mich nicht auf Ihre Unschuldsmiene, mir können Sie nichts vormachen. Bei Ihnen bin ich immer auf der Hut! Sie nehmen manchmal schmutzige Dinge beim Wort, die sogar einen ungebildeten und  grobschlächtigen Landsknecht zum Erröten bringen würden!“

– „Armes Mädchen! Habe ich Ihre keuschen Ohren beleidigt? Sie hätten mir doch nicht zuhören müssen. Ich rede ohne zu wissen, was ich sage, so sehr bin ich in die Arbeit vertieft und versunken.“ Degas biß seine Zähne zusammen, warf einen Blick auf seine große vernickelte Handuhr und sagte:

– „Jetzt aber nehmen Sie wieder die Stellung ein, Pauline, wir müssen weitermachen, die Zeit läuft, gleich läutet die Glocke von Sacré Coeur zu Mittag und Sie wollen dann wieder nach Hause gehen. Aber eigentlich haben Sie recht, mein Mädchen! Ich bin schrecklich, wenn es mich packt. Sie werden es erleben, ich mache es Puvis de Chavannes nach, der zu seinen nackt vor ihm posierenden jungen Mädchen zu sagen pflegt: ‚Willst du den Schwanz eines großen Mannes sehen?’“

– „So ein Ekel, und ich habe ihn für einen vornehmen Mann gehalten!“ antwortete Pauline.

– „Das eine schließt das andere nicht aus, meine liebe Pauline! Ah, diese viehische Kunst!“

Inzwischen läutete es an der Tür, das Zimmermädchen hatte seinen freien Tag, die Haushälterin Zoé war in der Stadt unterwegs, sie ging von Marktstand zu Marktstand, handelte und feilschte auf Biegen und Brechen mit den Gemüse-, Obst- und Fleischverkäufern, denn sie hatte pro Tag nur fünf Francs für die Lebensmitteleinkäufe zur Verfügung. Er ist furchtbar knausrig, wenn es ums Essen geht, beklagte sich einmal Zoé  Pauline gegenüber, aber für seine Malereien hat er immer genug Geld! Mit fünf Francs  muß ich jeden Tag auskommen für das Essen von uns drei, für ihn, meine Nichte und für mich. Er nennt sich zwar manchmal selber einen Dummkopf und Geizhals, aber es nützt nichts, ich bekomme trotzdem nicht mehr als meine täglichen fünf France! „Wer will mir denn jetzt wieder auf die Nerven gehen!“ rief Degas und ging, nachdem es geläutet hatte, mit steifem Oberkörper, den Kopf nach hinten in den Nacken geworfen durch den Flur und öffnete schwungvoll  die Wohnungstür. Pauline, die sich inzwischen auf dem Podest entspannen konnte, ihre Beine streckte, ihren Kopf im Nacken wiegte, ihre Brustwarzen betrachtete, mit dem Mittelfinger ihrer rechten Hand zwischen ihre Schamlippen fuhr und ein paar hoch stehende braune Schamhaare auf ihre Scheide drückte und bürstete, hörte im Hintergrund eine leise, schmeichlerische Stimme: „Guten Tag, verehrter Meister!“ – „Hier gibt es keinen verehrten Meister!“ schrie Degas und schlug die Tür laut zu.

– „Das muß einer von diesen dämlichen Kunstkritikern gewesen sein!“ sagte Degas, heftig schnaufend und mit hochrotem Gesicht, der sich wieder auf den Arbeitsstuhl gesetzt hatte.

– „Der Schriftsteller Huysmans, der meine Arbeiten zwar bewundert, ist auch so ein Armleuchter. Was hat denn der in der Malerei zu suchen? Er versteht davon nichts! Aber alle diese Literaten meinen, sie verstünden sich auf die Kunstkritik, als ob die Malerei nicht das Unzugänglichste wäre, das es gibt! Stell dir vor, Pauline, ich soll, so hat er einmal in einem Pulverblatt geschrieben, meinem Jahrhundert die gröbste Beleidigung ins Gesicht geschleudert haben, in dem ich die Frau nackt im Waschzuber, in der erniedrigenden Haltung ihrer intimen Toilette gezeigt habe! Es ist eine Schande, wenn einen vor allem die Leute kennen, die einen nicht verstehen. Rembrandt konnte sich glücklich schätzen! Er malte seine Susanna im Bade, ich hingegen male Frauen im Badekübel.“ Immer noch empört und irritiert vom überraschenden Besuch eines Kunstkritikers und über den in seinen Gedanken dazwischen gekommenen Schriftsteller Joris Karl Huysmans, schüttelte er wild Paulines rechten Arm.

– „Oh! Die Frauen können mir niemals verzeihen, sie hassen mich, sie können fühlen, daß ich sie ihrer Waffen beraube, ich zeige sie ohne ihre Koketterie und Charme, wie Tiere, die sich reinigen. Sie sehen in mir den Feind. Zum Glück, denn wenn sie mich mögen würden, wäre das mein Ende! Vielleicht aber habe ich die Frau zu häufig als Tier gesehen! Verstehen Sie mich, Pauline?“ Pauline zuckte ihre Achseln und zog ihre Augenbrauen hoch. Nachdem er eine Zeitlang geschwiegen, mehrere Pastellkreiden gewässert, eine Art Pastell-Seife daraus gemacht hatte, hob er seinen Kopf und schaute Pauline verzweifelt ins Gesicht:

– „Letztens, Pauline, war ich bei einem Nackttanz im ‚Cercle Hoche’, ich sage Ihnen, es hat mich abgestoßen, ich habe es nicht ausgehalten, ich bin gegangen, um mich bei bekleideten Frauen zu erregen. Haben Sie schon einmal von Van Gogh gehört, Pauline?“

– „Nein, Monsieur Degas!“

– „Nach dem Besuch eines Volksballs in Antwerpen hat der Maler Van Gogh gesagt: ‚Es waren sehr schöne Mädchen da, und die allerschönste war hässlich.’ Aber jetzt nehmen Sie die Pose wieder ein, Pauline! Nicht so verkrampft, stellen Sie sich nicht so an! Warum zucken Sie denn überhaupt mit den Achseln, wenn sie posieren! Darf ich denn gar nichts mehr sagen?“ rief der Meister neckisch. Ungeduldig geworden, da Pauline immer noch nicht in idealer Stellung vor ihm auf dem Hocker stand – er stotterte und geiferte bereits, Speicheltropfen hingen in seinem Bart -, griff er zu einem, neben einem Bündel Pastellkreiden liegenden kleinen Hämmerchen und schrie lauthals:

– „Pauline! Ich habe Lust, Ihnen den Kopf einzuschlagen, so schlaff sind Sie heute! Reißen Sie sich gefälligst zusammen!“ Pauline, die die Launen des Künstlers seit Jahren kannte, ihn trotz seiner ungehobelten Manieren gut leiden mochte, das Spielzeughämmerchen amüsiert betrachtete, das man gerade noch zum Einschlagen von kurzen, dünnen Reißstiften verwenden konnte, antwortete halblustig und schelmisch:

– „Das ist doch kein Bildhauerwerkzeug! Um mich erschlagen zu können, bräuchten Sie doch einen anständigen Steinmetzschlägel, Monsieur Degas!“

„Das ist wahr, ich werde es nie zu einem Bildhauer bringen!“ sagte der Meister amüsiert und hielt sich den Bauch vor Lachen, um dann nach einer kurzen Pause in einem süffisanten Tonfall  fortzufahren:

– „Und bei welchem Künstler posieren sie noch, außer bei mir, wenn ich fragen darf, Pauline?“

– „Bei Monsieur Blondin, aber nur zweimal die Woche!“

– „Ist er denn auch anständig zu Ihnen, dieser, wie heißt er denn schon, dieser Monsieur Blondin?“

– „Ja, Monsieur Degas, er ist wie alle Künstler. Er schämt sich auch nicht, wenn er grobe Witze macht!“

– „Er ist also wie alle Künstler! Nicht wahr, Pauline, die Leute stellen sich also vor, daß die Künstler und ihre Modelle dem Herrgott die Zeit stehlen und ihre wertvollen Tage damit totschlagen, um sich schweinisch zu benehmen.“ Degas schaute sich um, näherte sich der nackten Pauline und flüsterte ihr ins Ohr:

– „Hören Sie, Pauline, ich wünsche mir, daß Sie den anderen Künstlern erzählen, daß ich noch rüstig bin! Erzählen Sie, daß ich versucht hätte, mich an Ihnen zu vergreifen, Sie zu mißbrauchen und daß Sie alle Kraft aufbieten mußten, um mich abzuwehren und seither nie mehr mein Atelier betreten haben und es, Gott behüte, auch nie mehr betreten werden!“ sagte Degas mit schelmischem Lächeln.

– „Abgemacht, Monsieur Degas. Ich werde Ihnen zu einem Ruf verhelfen, neben dem der Herumtreiber und Frauenverführer Chavanne wie ein kleiner Heiliger aussehen wird!“ antwortete Pauline und freute sich, den oft genug mürrischen, unzufriedenen und griesgrämigen Alten endlich wieder erheitert zu haben. Manchmal, wenn Degas guter Laune und fröhlich war, sang er beim Malen mit den Pastellkreiden oder beim Modellieren, auf Italienisch eine Arie aus dem Don Giovanni. Manchmal verbrachte Degas – er kannte viele italienische Opern auswendig -, den halben Vormittag mit dem Singen von Arien, übersetzte die Texte dem posierenden Modell ins französische und rief dabei immer wieder entzückt: „Ist das nicht köstlich, Pauline! Ist das nicht köstlich!“ Manchmal war er so beglückt und heiter, daß er Paulines Hände nahm, sich mit dem nackten Mädchen im Kreis drehte, dabei sein langer Kittel um die eigenen Beine flog und er ein französisches Lied vortrug, Pauline, so gut sie konnte, dabei mitsummte. Oder der weißhaarige Greis verbeugte sich in seinem langen, weißen, mit Farben beklecksten Bildhauerkittel vor dem splitternackten, nur Sandalen an den Füßen tragenden Mädchen. Und das junge Mädchen verbeugte sich ebenfalls amüsiert  vor dem kindlich jauchzenden Meister.

 

DER DRITTE TAG

„Ah, Sie sind es Pauline!“ sagte Degas und reichte seinem Modell lächelnd und freundlich die Hand, nachdem es vom Dienstmädchen ins Eßzimmer geführt worden war. Pauline wechselte den Raum, ließ sich im Wohnzimmer auf dem schwarzen Ledersessel neben dem Kamin nieder und betrachtete, während der Meister im Nebenraum sein Frühstück einnahm, eine Tasse Tee trank und zum Abschluß eine Zigarette rauchte, ein paar Minuten die auf dem Sims des Kamins stehenden verschieden großen und verschieden farbigen Petroleumlampen mit den angerauchten Schirmen, ging zum Spiegelschrank und setzte sich auf den Stuhl. Immer noch lagen Kamm und Bürste auf der in allen Ecken staubigen Marmorplatte, auch die weiße Parfumflasche stand noch an derselben Stelle, unberührt und staubig. Links vom Spiegel hing eine große, eingerahmte Pastellzeichnung mit blaugelbem Hintergrund, die eine junge nackte Frau zeigte, die aus der Wanne gestiegen war,  mit ihrem nackten Hintern auf dem abgerundeten Wannenrand saß, sich bis zu den Knien vorbeugte und mit einem weißblauen Handtuch ihre Unterschenkel abtrocknete, das Haar hochgebunden, deutlich sieht man ihre dunklen Achselhöhlen, die hinunterhängenden, jugendlichen Brüste mit den rosa Brustwarzen. Ein rosaroter Schimmer vom weithin im Zimmer leuchtenden offenen Kaminfeuer wiederspiegelte sich auch auf ihren Hinterbacken, sowie auf zwei, drei Wirbelsäulenknochen, andeutungsweise sieht man auch die Rippen ihrer rechten Brustkorbseite. An der gelbblauen Wand hängt ein blaurotes Badetuch, ein gelber, polstriger Korbsessel mit langen, auf den schmutzigen Boden hinunterhängenden Fransen steht in der anderen Ecke, gegenüber der blauen Badewanne. Lange und verträumt betrachtete Pauline die Pastellzeichnung, wendete ihren Blick wieder zum Spiegeltisch, auf die Marmorplatte, schaute irritiert und verträumt auf die im  Kamm hängen gebliebenen Frauenhaare – vielleicht gehören die Haare Juliette oder Suzon, die er einmal zur Tür hinausgeworfen hatte, weil sie eine Viertel Stunde zu spät zum Modellstehen gekommen war mit den Worten: „Hier sind Ihre fünf Francs. Hauen Sie ab und lassen Sie sich hier nie mehr blicken!“ –,  nahm ihren Hut mit der rosafarbenen Stoffrose vom Kopf, öffnete ihren Haarknoten, betrachtete die Haarspitzen und roch an ihrem frischgewaschenem Haar. Sie schlenderte zum Wandschirm, hantierte an den Knöpfen ihres Kleid, gab dabei acht, damit das bis zu ihren Knöcheln hinunterreichende blauweiße Kleid nicht auf den ewig verschmutzten Boden fällt, öffnete ihren blauen Büstenhalter, streifte ihren Slip und ihre Strümpfe über ihre Füße, schließlich über die  Zehen, versteckte die Unterwäsche wieder unter ihrem Kleid und stellte sich zwischen den Modellierbock und den Ofen. Der Meister, der die fertiggerauchte Zigarette ausgedrückt, die auf seinem Schoß liegende Serviette auf den Esstisch geworfen  hatte, setzte sich vor seine Statuette und wartete ungeduldig, bis Pauline aufs Podest stieg, um die Pose einzunehmen. Pauline bemühte sich, auf ihrem linken Bein das Gleichgewicht zu halten, während ihre rechte Hand mühsam ihren rechten Fuß nach hinten hochhielt. Öfter beklagte sie sich  bei der Haushälterin Zoé, daß dem Meister beim Modellstehen nur die körperlich anstrengenden extravaganten Haltungen interessierten. Wohl eine Viertel Stunde lang arbeiteten sie ruhig – der Meister modellierte, sie verharrte ruhig in der gewünschten, gefrorenen Stellung -, ohne ein Wort zu sprechen,  bis  Zoé kam und ein kleines Steingefäß auf den Tisch neben dem Sessel stellte. „Ihr Kräuteraufguß, Monsieur!“ sagte sie und verschwand sofort wieder. Degas machte einen Schluck, zuckte mit den Lippen zurück, da der Kirschstengelaufguß noch zu heiß war, warf einen strafenden Blick auf den Rücken der in die Küche verschwindenden, die Tür schließenden Zoé, stellte das Steingefäß wieder auf den Tisch und begann nun von der gestrigen Einladung bei seinem alten Schulfreund zu erzählen, beschrieb schwärmerisch die ausgezeichnete Abendmahlzeit, Entenpastete, gebratenen Fasan, als köstliche Nachspeise gab es frische Erdbeeren in Eierschaum und sagte, daß die Rouarts noch eine seiner wenigen Freunde seien, die er noch habe, die meisten schon gestorben seien und zu den anderen möchte er wegen ihrer Frauen nicht mehr gehen, denn sie halten ihn doch nur für einen alten Griesgram, weil er es nicht leiden kann, beim Essen einen Blumenstrauß vor der Nase zu haben, er von Parfüms und Schnittblumen heftige Kopfschmerzen bekomme und deshalb keinen Fuß mehr in diese Häuser setze, wo diese Frauen und Gastgeber, obwohl sie seine Aversionen gegen diese Düfte kennen, dennoch ihre Tafel mit Blumensträußen schmücken und daß er nur einen, einen einzigen Geruch liebe, nämlich den Geruch von angebranntem Brot. Als er Pauline zaghaft, fast ängstlich fragte, ob sie auch den Geruch von angebranntem Brot mag, antwortete sie: „Er ist mir nicht zuwider!“ Der Meister stand vom Stuhl auf, ging in die Küche, kehrte nach ein paar Minuten zurück ins Arbeitszimmer, zum Kamin und ging mehrere Minuten lang mit einer Schaufel, auf der ein angebranntes Stück Brot rauchte, im Atelier auf und ab. Mit dem schwarz rauchenden Brot blieb er vor einer unvollendeten Pastellzeichnung stehen, die eine nackte, in einem Waschzuber hockende, sich mit der linken Hand in der Flachwanne aufstützende junge Frau zeigte, die einen nassen Schwamm auf ihrem Nacken ausdrückte. Rechts vom gebogenen Rücken der sich waschenden Frau sieht man den Marmortisch, auf dem ungeordnet ein kleiner Messingkrug, eine hölzerne, mit dem Stiel über den Rand des Tisches hinausschauende Haarbürste, eine offene Schere, ein großer Wasserkrug und eine rotbraune Perücke liegen. Genüßlich den schwarz qualmenden Rauch vom angebrannten Brot einatmend und auf die unfertige Pastellzeichnung schauend, seufzte der Meister vor der nackt posierenden, ein wenig entgeistert schauenden Pauline:

– „Mein Gott, wenn ich sie doch fertig stellen könnte! Leider werde ich nie mehr zeichnen können, denn mein Augenlicht verlässt mich immer mehr, es wird von Woche zu Woche schlechter. Wie schrecklich, daß ich nicht mehr sehen kann! Was für ein Leben für einen Maler! Oh Herr, laß mich nicht ganz erblinden! Lieber möchte ich sterben! Wenn ich Briefe schreibe, dann schreibe ich, ohne dabei zu sehen, ich kann nicht einmal mehr durchlesen, was ich geschrieben habe. Weißt du, Pauline, ich denke immer an den Tod. Tag und Nacht habe ich den Tod vor Augen. Ah! Wie traurig ist es doch, alt zu sein! Sie wissen nicht, was das heißt, mein Mädchen, Sie mit Ihren fünfundzwanzig Jahren.“ Pauline versuchte ihn von diesen traurigen Gedanken abzulenken und mit einer anderen Geschichte aufzuheitern und fragte ihn, ob er sich noch an ihren ersten Besuch erinnern könne, an die Zeit, als sie das erste Mal mit ihrer Freundin Louise in die Rue Victor-Massé kam, es ist doch schon über acht Jahre her.  Stolz, mit hocherhobenem Kopf antwortete Degas, daß nämlich er der erste gewesen sei, der sie nackt gesehen habe, daß sie sich zuerst nicht ausziehen wollte, ihre Begleiterin Louise fast gewaltsam das Hemd von ihrem Leib reißen musste, und daß sie so schamvoll, keusch und bezaubernd ausgesehen habe.

– „Denken Sie daran, Monsieur, ich war doch erst siebzehn Jahre alt und mußte mich das erstemal vor einem Mann ganz nackt ausziehen!“

– „Ist denn ein Künstler ein Mann?“ erwiderte Degas mit gespielter finsterer Miene, mit einem Lächeln um seine Lippen und mit Achselzucken. „Zugegeben, Sie waren außerordentlich hübsch, Pauline, ich habe Sie bewundert, aber wie schlecht Sie posiert haben! Es war nicht möglich, Sie dazu zu bringen, das Kreuz durchzudrücken!“

– „Aber mit Schlägen auf meinen Rücken haben Sie es mir doch beigebracht! Seit acht Jahren schon posiere ich bei Ihnen, und ich habe Sie noch immer nicht ins Grab gebracht, Monsieur Degas!“