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über soutine

Ich spreche keine Sprache nicht“  –  über Chaim Soutine

Chaim Soutine wurde 1893 als zehntes von elf Kindern eines armen jüdischen Flickschneiders in Smilowitchi, einem litauischen Dorf in der Nähe von Minsk, geboren. Smilowitchi, in dem 4000 Einwohner, Tataren, Polen, russische Bauern, vor allem Juden lebten, bestand aus einer tristen Ansammlung baufälliger Häuser. Durch ein Fenster seines Elternhauses konnte man von der Straße aus Chaims Vater, Zalman Soutine, einen ungebildeten und gewalttätigen Mann, Tag und Nacht in einer buddhaähnlichen Sitzhaltung bei seinen Flickarbeiten sehen. Die Fassade des Hauses war auf einen großen Platz hinaus  gerichtet, auf dem der Gemüsemarkt abgehalten wurde. Dahinter floß die Vilna, die den Garten der Familie oft monatelang überschwemmte. Der kleine Chaim flanierte gerne über den Markt, mischte sich unter die Bauern, streifte durch die Felder und konnte sich stundenlang alleine am Flussufer aufhalten. Seine Muttersprache ist jiddisch, nur ein wenig konnte er russisch sprechen. Chaims Mutter soll früh gealtert, immer voller Sorgen, vollkommen schweigsam und mit ihrem Haushalt und den elf Kindern ständig überfordert gewesen sein. Besonders freitags, wenn sie das Brot für die ganze Woche backen musste, hagelte es aus ihren mehligen Händen Schläge.

Im Alter von 13 Jahren machte Chaim, das Kind orthodoxer Juden, zum Zorn seiner Eltern und Geschwister auf allen möglichen Papierfetzen, die ihm zwischen die Finger kamen, Zeichnungen und Skizzen und bemalte die Wände des Hauses mit Holzkohle. Für diese Schandtat wurde das Kind von seinen älteren, ebenfalls verrohten Brüdern verprügelt mit den Worten: „Juden dürfen nicht malen!“, denn Zeichnen und Malen waren in der orthodoxen Gemeinde ketzerisch und galten als schwere Sünde und Blasphemie. Wenn die betenden Gläubigen im Tempel des Schtetls aufgefordert wurden, in Ehrfurcht vor Gott den Kopf zu senken, hob der rebellische Chaim, der sich nicht unterordnen wollte, stolz sein Haupt. Vor seinen gewalttätigen Brüdern versteckte er sich in den Wäldern und ließ sich erst wieder blicken, wenn ihn der Hunger nach Hause trieb. Sobald er wieder in der Küche auftauchte, um sich mit Proviant zu versorgen – Milch und frisches, warmes Schwarzbrot -, wurde er wieder von seinen Geschwistern verhauen. Seither hatte er eine tiefe Narbe auf der Brust. Um Zeichenkreide kaufen zu können, veräußerte er aus dem elterlichen Haushalt ein Küchenmesser und wurde dafür zur Strafe in den Keller, bei anderer Gelegenheit in den Hühnerstall gesperrt. Als Chaim 16 Jahre alt war, bat er einen frommen Juden, daß er für ein Portrait Modell sitzen möge. Am nächsten Tag wurde er von den Söhnen und Freunden des Mannes so schwer misshandelt, daß er sich alleine nicht mehr erheben konnte. Die Täter glaubten sogar, daß er tot sei und ließen ihn einfach liegen, bis die Polizei kam. Erst nach einer Woche konnte er wieder auf eigenen Beinen stehen und gehen. Soutines Mutter verklagte die Übeltäter, und mit dem Bußgeld von 25 Rubeln verließ der gequälte und gedemütigte Chaim mit einem Freund sein Heimatdorf Smilowitchi und fuhr nach Minsk. Das Wertesystem in seinem Schtetl hatte keinen Platz für Bilder, Soutines Malerei wurde als Bedrohung für die orthodoxe Gemeinde empfunden.

Nach einem einjährigen Aufenthalt in Minsk ging er nach Vilnius und bewarb sich für ein dreijähriges Studium an der Kunsthochschule, wo er bei der Aufnahmsprüfung einen Kegel, einen Kubus und einen Krug zeichnen sollte, aber bei diesem entscheidenden Test so nervös war, daß er einen Fehler in der Perspektive machte und abgewiesen wurde. Der junge Chaim warf sich Professor Rebakoff regelrecht zu Füßen, kniete weinend vor ihm nieder und flehte ihn an, die Prüfung unter Ausschluß der Öffentlichkeit wiederholen zu dürfen. Der zu Tränen gerührte Kunstprofessor erlaubte ihm eine zweite Aufnahmsprüfung. Die Themen seiner Skizzen waren damals schon jüdische Begräbnisse, Einsamkeit, Armut, Elend, Tod und Verzweiflung. Theatralisch inszenierte der Jugendliche die Sitzungen mit seinen Modellen. Sein Freund Kikoine musste eine Aufbahrung simulieren und sich auf den Boden legen. Chaim breitete ein weißes Laken über den Mitschüler der Akademie, umstellte den abgedeckten Körper mit brennenden Kerzen und begann zu zeichnen. Die Schüler der Kunstschule in Vilnius trugen eine Studentenuniform mit goldenen Knöpfen und Mütze. Um an seine Malobjekte heranzukommen, gab sich Soutine bei den Dorfbewohnern, die von der Uniform beeindruckt waren, als Amtsperson aus. „Der ‚pristav’, der Polizeikommissar, schickt mich, um Ihr Portrait anzufertigen“, sagte er zu den eingeschüchterten Bauersleuten, die sich bereitwillig portraitieren ließen. Nach drei Jahren beendete Chaim Soutine das Studium an der Kunsthochschule in Vilnius. Aus ihm war, wie es hieß, einer der besten Studenten geworden, aber er wollte weg, er wollte Rußland und das ihn bedrückende Schtetl Smilowitschi verlassen, er wollte nach Paris, in die damalige europäische Hauptstadt der Künste. Ein Bekannter aus Vilnius, ein jüdischer Arzt, finanzierte seine Reise. Noch im Jahr seines Studienabschlusses, im Juli 1913, kam er auf dem Gare du Nord in Paris an. Als Gepäck hatte der zwanzigjährige Immigrant einen Rucksack, eingerollt unter dem Arm ein paar in Russland gemalte Bilder, ein paar Rubel und die Anschrift von „La Ruche“.

 

2.

„La Ruche“, was soviel heißt wie „Der Bienenkorb“, war ein vom akademischen Bildhauer Alfred Boucher im Jahre 1902 errichtetes Gemeinschaftshaus für mittel- und wohnungslose Künstler, eine Art Akademie, in der den Portrait-Malern kostenlos Modelle zur Verfügung gestellt wurden. La Ruche war ein rotundenartiger Gebäudekomplex, der auf jeder Etage in wabenförmige Ateliers unterteilt war. Die Räume waren nicht durch Türen, sondern durch Vorhänge abgeteilt, und über den Türstöcken, auf Hängeböden, befanden sich die Betten. Diese „Villa Medici des Elends“, wie sie auch genannt wurde, diese zur Zeit der Ankunft Soutines bereits verlotterten und von Ungeziefer verseuchten Quartiere, konnten zweihundert Künstler beherbergen. Wenn die „Bienen“, so nannte der Gönner Alfred Boucher seine Pensionäre, ihre Mieten nicht zahlen konnten, ignorierte er es und bedrängte niemanden. In den Ateliers, die jedermann offen standen, tauchten manche Ankömmlinge mit ihren Farbtöpfen und Pinseln oft nachts auf, und der großzügige Boucher begrüßte jeden Neuankömmling, ohne zu fragen, warum und woher er kam, was er denn eigentlich hier wolle. Wer in La Ruche wohnte und etwas mehr verdient hatte, war verpflichtet, den mittellosen Malern die Leinwände zu kaufen. Anfangs ging Soutine, der die Passage de Dantzig, in der sich La Ruche befand, nach seiner Ankunft in Paris nur mühsam finden konnte und sich zuvor in den Gängen der Métro verlaufen und verirrt, sich in der Stadt auf jiddisch zum Quartier Montparnasse durchgefragt hatte, in den Ateliers der anderen Künstler aus und ein, er aß bei den einen und schlief bei den anderen. Pinchas Krémègne, mit dem er in Vilnius die Kunsthochschule besucht, den es noch vor Soutine nach Paris ins La Ruche verschlagen hatte, bei dem er zuallererst anklopfte und um Gastfreundschaft bat, und mit dem er jiddisch sprechen konnte, beklagte sich später über Soutine, der sich so lange bei Tisch bedienen konnte, bis für andere nichts mehr auf den Tellern blieb, der die karge Mahlzeit einer Schüssel Kartoffel alleine verschlingen konnte und der sich dann auch nicht schämte, mit den Worten: „Das ist mein Bandwurm!“ um ein weiteres Stück Brot zu bitten. Soutine verdiente seinen erbärmlichen Lebensunterhalt zeitweise als Gepäcksträger am Gare de Montparnasse, arbeitete als Dekorateur auf der damaligen Automobil-Ausstellung im Grand Palais, meldete sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges zur Arbeitsbrigade und hob Schützengräben aus, wurde aber wegen seines Magenleidens bald entlassen. Stundenlang soll er manchmal im Quartier Montparnasse, wo sich auch die Künstlerklause La Ruche befand, an den Theken der Cafés  „Le Dome“ und „La Rotonde“ herumgelungert haben, bis ihm jemand einen Cafè Crème oder ein Sandwich spendierte. Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der Soutine in den Cafés von Montparnasse begegnete, beschrieb seinen Eindruck so: „In der allerdunkelsten Ecke saßen regelmäßig Krémègne und Soutine. Soutine blickte verschreckt und schläfrig drein – als hätte man ihn aus seinen Träumen gerissen und ihm keine Zeit zum Waschen und Rasieren gelassen. Er hatte die Augen eines gejagten Wildes – vielleicht vor Hunger.“

Als sich Soutine nach langwierigen und schmerzhaften Ohrenleiden endlich entschlossen hatte, zu einem Ohrenspezialisten zu gehen, entdeckte der Ohrenarzt in seinem Gehörgang nicht einen eitrigen Abszeß, sondern ein Wanzennest. Der magenkranke Chaim Soutine war abergläubisch und hatte große Angst vor einer Nahrungsmittelvergiftung. Als er einmal ein Stück Schinken, von dem er gegessen hatte, verfault im Abfall wiederfand, war er überzeugt, daß auch er verfaulen und daran sterben werde, weil er zuvor von diesem Schinken gegessen habe. Obwohl er dichtes, volles Haar, aber ständig Angst davor hatte, es zu verlieren, ließ er sich von einer Nonne regelmäßig seine Kopfhaut massieren und mit einem Spezialtonikum behandeln. Ebenfalls gegen Haarausfall beschmierte er mit einem frisch aufgeschlagenen rohen Eis seine Haare, setzte sich, ohne Eiweiß und Dotter wieder herauszuwaschen, einen Hut auf und spazierte durch Paris. Der Einzelgänger und Außenseiter Soutine wurde von vielen als melancholischer, oft verbitterter und zurückhaltender Mensch beschrieb, aber er selbst sagte einmal über sich: „Ich bin nicht unglücklich! Ich war immer glücklich!“

 

3.

Marc Chagall, der zwei Jahre vor Soutine ins La Ruche gekommen war, erinnerte sich, daß man durch die Passage de Dantzig, wo die Ateliers von La Ruche mit den eifrigen Malern lagen, wie durch eine Armeleutesiedlung gehen konnte, ohne zu unterscheiden, wer wirklich künstlerisches Talent hatte oder wer Möchtegernkünstler und Farbenschmierer war. Während in den russischen Ateliers ein gekränktes Modell leise schluchzte, ertönten bei den weinseligen Italienern Lieder und Gitarrenklänge, bei den Juden soll es häufig Diskussionen gegeben haben, während er, Chagall, ganze Nächte lang im Schein einer Petroleumlampe in seinem Atelier durchwachte, umgeben von Bilderrahmen, Eierschalen und leeren, stinkenden Suppendosen, die auf dem Boden lagen, dazwischen die Reste eines halbierten Herings, der Kopf des Fisches war für den einen, der Schwanz für den nächsten Tag als Mahlzeit bestimmt. Während Chagall, der von den Mitbewohnern von la Ruche „le poète“ genannt wurde, sich beim nächtlichen Gebrüll des Viehs aus den benachbarten Schlachthöfen an seinen Großvater im russischen Dorf Peskowatik erinnerte, der Fleischhauer war und seine allegorischen Traumbilder aus dem Gedächtnis auf die Leinwand zauberte, so musste Soutine seine Malobjekte direkt vor sich haben. In ungewaschenem und unrasierten Zustand, mit feucht näselnder Aussprache, wie es hieß, den Hut über den Kopf gezogen, damit man ihn nicht erkennen und, was häufig vorkam, nicht ausspotten konnte, verließ Soutine oft schon um drei Uhr morgens sein Quartier, ging mit seiner Malkiste und mit einer kaputten Staffelei in die Außenbezirke von Paris und suchte seine Motive in der Natur, seine Modelle in der einfachen Bevölkerung in den kleinen Dörfern, lief zehn, zwanzig Kilometer mit seinen Malerutensilien, um ein Objekt zu finden, hauste in einem Schweinestall, kehrte ohne Essen wieder zurück und wurde nicht selten schlafend zwischen seinen ausgerollten und bemalten Leinwänden angetroffen. Als Marc Chagall im Jahre 1914, Soutines Ankunft, La Ruche verließ, dabei Gemälde zurückließ, die er niemals wieder sehen sollte, da einige zum Abdecken der Hühnerställe verwendet wurden, wäre Soutine so gerne in Chagalls komfortableres Atelier gezogen, in das durch eine Dachbodenlucke Tageslicht einfiel – „Mein Fenster öffnete sich zum Himmel, das war poetisch“, so Chagall -, aber Chagall lehnte den Wunsch seines Landsmannes mit der Begründung ab, daß Soutine vagabundenhaft aussehe.

 

4.

Soutine trug, so beschrieben ihn einige Zeitgenossen, farbverschmutzte Kleider, durchlöcherte Schuhe, hatte eine flache Nase, dicke Lippen, schwarze, ins rötliche Gesicht hängende Haarsträhnen, einen scheuen, misstrauischen Blick, picklige Haut, ein kindliches Lachen, mit nach innen gebogenen Armen und Beinen und mit gebeugtem Rücken will man ihn, ob bei Sonnenschein oder strömenden Regen, durch die Straßen von Paris haben laufen sehen. Soutine hatte außerordentlich schön Hände, die auch Amadeo Modigliani auffielen, mit dem Soutine im La Ruche befreundet war und der auch seine Bilder bewunderte. „Der große Maler unserer Zeit, das ist Chaim Soutine“, sagte Modigliani, „neben ihm existiere ich gar nicht.“ Wenn Soutine abends von Modigliani – Modigliani war Alkoholiker und drogenabhängig – betrunken nach Hause kam, lief er um das runde Gebäude von La Ruche, suchte den Eingang zu seiner Klause und rief: „Merde, merde, ich kann die Tür nicht finden!“ Modigliani war der sogenannte „Prinz von Montparnasse“, Soutine das verkörperte, nach Schmutz und Ölfarben riechende Elend, die zeitweise mit den selben Modellen gearbeitet haben. Im Zimmer, in dem sich Modigliani und Soutine nächtelang unterhielten und Wein tranken, bauten sie einen Desinfektionsring aus Asche oder Lehm ums Bett, um sich die Wanzen vom Leib zu halten. Als Modigliani wegen einer Lungentuberkulose im Sterben lag, solle er zu seinem Kunsthändler Zborowski, einem polnischen Dichter und Maler, gesagt haben, daß er, Modigliani, nun wohl werde „gehen“ müssen, ihm aber Soutine, ein Genie, zurücklassen und er sich seiner annehmen solle.

Im Jänner 1920 erfährt Soutine während eines Malaufenthaltes in Cagnes-sur-Mer, in der Cote d’Azur, die Nachricht vom Tod Modiglianis und vom Selbstmord seiner schwangeren Lebenspartnerin Jeanne Hébuterne. Soutines Freund und Biograph Emile Szittay berichtete, daß er Chaim besonders auch nach dem Tod seines Freundes Amadeo Modigliani, der ihn tief erschüttert haben soll, häufig in trauriger Stimmung angetroffen, besonders wenn er ein Gemälde zuende gebracht habe. Grégoire Michonze, einem Landschaftsmaler, zeigte Soutine in der Cote d’Azur einen Baum und sagte: „Dies hier ist mein Baum. Ist er nicht wie eine Kathedrale? Ich habe ihn 18mal gemalt.“ In diesem Sommer besuchten ihn Léopold Zborowski und dessen Frau Anna in Cagnes, begleitet von der vierzehnjährigen Paulette Jourdain, die seit einem Jahr im Hause des Ehepaars Zborowski angestellt war und die Modigliani als Modell gestanden habe. In Paulette Jourdain findet Soutine über mehrere Jahre eine hilfreiche Begleiterin und Modell. Paulette berichtete von endlos langen Sitzungen, die ihr die größte Geduld abverlangte, oftmals musste sie lange und regungsloses Posieren ab. Paulette Jourdan stellte für den weltfremden und scheuen Maler den Kontakt zur Außenwelt her, besorgte mit ihm bei den Bauern die Geflügel, die nach den Farben ihres Federkleides auswählte und malen wollte. Soutine malte auf nicht aufgezogenen, künstlerisch wertlosen Gemälden aus dem 17. Jahrhundert, die ihm als Malgrund dienten und die er für ein paar Sous auf Flohmärkten erstanden hatte. Soutine, der glatte glatte Malunterlage schätzte, sagte einmal „Ich lasse meinen Pinsel gerne gleiten“. In der Hand hielt er immer mehrere Pinsel, die er, kaum hatte er sie für einen Strich verwendet, wegwarf. Farbtuben von bester Qualität soll er ausgesucht haben, er schrieb an Gott und die Welt, um hochwertige Farben zu kommen, und seine Palette soll immer von mustergültiger Sauberkeit gewesen sein. Einmal, ein fertiges Gemälde betrachtend, soll er gesagt haben: „Es ist besser als die Bilder von Modigliani, besser als die Bilder von Chagall und Krémègne. Eines Tages werde ich meine Bilder zerstören, aber Chagall und Modigliani sind zu feige, um ihre eigenen Werke zu vernichten.“ Und über Cezanne urteilte er: „Ein Maler, der mich nicht bewegt, das ist Cezanne. Das ist vorbei, über diese Phase bin ich hinaus, daran habe ich einmal geglaubt. Ich denke nicht, daß in fünfzig Jahren noch viel davon bleiben wird, das ist zu gekünstelt, gesucht, schwierig, zu sehr Angelegenheit des Verstandes.“ Van Gogh soll er überhaupt gehasst haben.

 

5.

Soutine, der oft in den Louvre ging, um die Gemälde der Alten Meister zu betrachten, soll andächtig mit gesenktem Kopf und scheuem Blick an den Bildern von El Greco, Courbet, Tintoretto, Goya und vor allem an den Bildern Rembrandts entlang geschlichen sein. In einer „Art respektvoller Furcht“, wie es hieß, soll er sich den Gemälden Rembrandts genähert haben. „Das ist so schön, daß ich davon noch verrückt werde!“ sagte er zu Chana Orloff, mit der er oft durch den Louvre ging. Soutine vergötterte Rembrandt, fuhr auch nach Amsterdam ins Rijksmuseum, um sich noch andere Bilder, auch Rembrandts geschlachteten Ochsen anschauen zu können. „Die Judenbraut“ im Rijksmuseum war für Soutine eine Pilgerstätte. „Rembrandt ist ein Gott! Nein, er ist Gott!“ sagte er einmal. Skeptisch gewordene Museumswärter, denen das seltsame Verhalten Soutines auffiel, folgten ihm und seiner Begleiterin im Louvre argwöhnisch von Saal zu Saal.

Zu seinem Kunsthändler Zborowski sagte er einmal: „Man behauptet, Gustav Courbet habe in einem einzigen weiblichen Akt die ganze Pariser Atmosphäre einfangen können. Ich hingegen kann Paris im Kadaver eines Ochsen zeigen.“ Soutine bat seinen Agenten Zborowski, ihn in die Schlachthäuser zu begleiten, denn er wollte einen enthäuteten Ochsen kaufen. Man brachte den Ochsen ins Atelier, aber es dauerte lange, bis Soutine zu malen anfing, so daß der Ochse inzwischen zu verwesen und fürchterlich zu stinken begann. Um die Fleischfarben auffrischen zu können, überschüttete Soutine den Ochsen mit frischem Blut, das er eimerweise bei einem Metzger gekauft hatte, und malte weiter. Seine junge Gehilfin, die kaum siebzehnjährige Paulette Jourdain, verscheuchte dabei die Fliegen. Der seit Tagen anhaltende Verwesungsgeruch des Ochsen beunruhigte die Nachbarn. Die Beamten des Gesundheitsamtes konnte Soutine davon überzeugen, daß seine Malkunst wichtiger sei als die Hygiene. Die Beamten bespritzten das Fleisch mit Ammoniak, damit es sich nicht weiter zersetzte und der Verwesungsgeruch gemildert wurde. Von diesem Tag an hantierte Soutine in seinem Atelier – assistiert von Paulette Jourdain – immer wieder mit Amoniaksprizen, wenn er über eine längere Schaffenszeit mit den vielen Pausen, herumhängende tote Hasen, Enten und Hähne malte. Die wieder und wieder behandelten Enten sollen schon bockig und starr gewesen sein, ohne daß sich aber die Farbe ihrer Federn veränderte, und die von Paulette auf den Abfall geworfenen Tiere vergifteten die fleischfressenden Hunde. Nach einer anderen Anekdote soll beim Wiederauffrischen eines Ochsen – Soutine malte zehn Ochsenkadaver – das Blut von seinem Atelier durch den Fußboden in die darunter liegende Wohnung gesickert sein. Die Concierge habe an einen Mord geglaubt und die Polizei gerufen, die schließlich den Kadaver abschleppen ließ.

Mit seinen farbverschmierten Händen sich über seine eigene Kehle streichend, sagte Soutine zu seinem Freund Emile Szittya: „Ich sah einmal, wie ein Dorfschlachter einer Gans die Kehle durchschnitt und das Blut herauslaufen ließ. Ich wollte schreien, aber sein fröhlicher Blick schnürte mir die Kehle zu. Diesen Schrei fühle ich immer noch in mir. Als ich als Kind ein Selbstportrait zeichnete, habe ich versucht, mich von diesem Schrei zu befreien. Bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen, mich davon zu befreien.“ Die jüdische Speisevorschrift, der Begriff des „Koscheren“, schreibt vor, die Tiere mit glatter Klinge, schnell, sauber und möglichst schmerzfrei zu töten, das aus dem Körper fließende Blut sofort zu entfernen, das Fleisch schnell zu verarbeiten. Soutine verletzte die Dogmen des Schtetl, seiner jüdischen Herkunft, hängte die blutigen Tiere, Hähne, Kaninchen, Fasane an Fleischerhaken und studierte sie genau, bevor er den Pinsel in die Hände nahm. Sein Kunsthändler Zborowski erzählte: „Ich muß sagen, Fleisch malt er gut, besonders, wenn er hungrig ist. Haben Sie jemals seinen gierigen Rachen bemerkt? Nun, er kauft ein Stück rohes Fleisch und fastet zwei Tage bei seinem Anblick, ehe er anfängt zu malen. Sehen Sie sich das Rot an: Hat er nicht seinen ganzen kannibalischen Appetit in dieses Rot gelegt?“ Mit seiner jungen Gehilfin Paulette Jourdain ging Soutine von Fleischhauer zu Fleischhauer und suchte einen ganz bestimmten Kalbskopf. „Verstehen Sie“, sagte er zum Metzger, „ich möchte einen ganz besonderen Kalbskopf.“ Durch die Geflügelläden gehend, suchte er ein ganz bestimmtes Huhn, es musste einen langen Hals und eine bläuliche Haut haben. Ein Geflügelhändler bot dem verwahrlosten und immerzu hungrigen Soutine einmal aus Mitleid ein besonders fettes Huhn an, aber Soutine bestand darauf, ein ausgemergeltes Huhn zu kaufen. Auf der Straße hob er entzückt das Huhn in die Höhe und sagte zu seiner Begleiterin: „Ich werde es gleich am Schnabel mit einem Nagel aufhängen, und in ein paar Tagen ist es dann soweit, Paulette.“ Wenn Soutine einen Seelachs oder eine Forelle malen wollte, ging er morgens um sieben Uhr zu einem bestimmten Zug, der täglich die frischen Seefische anbrachte. Entsprachen die Fische nicht seinen Erwartungen – Soutine schaute sich im Louvre oft die einzigartige „Forelle“ von Gustav Courbet an – erschien er am nächsten Morgen mit Paulette wieder am Bahnhof beim Ausladen der Meerestiere.

 

6.

Zur russischen Malerin Marevna, der er in La Ruche begegnet war, sagte Soutine einmal: „Ich male lieber Landschaften als Portraits. Ein Modell ermüdet rasch und sieht dann stupide aus. Also muß man sich beeilen, ich rege mich auf, knirsche mit den Zähnen und fange manchmal zu brüllen an, ich mache die Leinwand kaputt und wälze mich am Boden. Wenn das Modell den Mund hält und sich nicht bewegt, dann geht’s, aber wenn sich etwas ändert, verliere ich die Linie von Nase und Mund – und es geht schon wieder nicht. Ich sehe Flammen vor mir, und es brennt. Also brülle ich und werfe alles zu Boden. Das ist dumm, nicht wahr. Ich habe eine Höllenangst. Und wenn das Bild fertig ist, bin ich erschöpft wie eine Frau, die eben ihr Kind bekommen hat. Ich frage mich dann, was mit mir los, warum ich so außer mir bin.“  Chaim Soutine, der die schönsten roten Gladiolen, die schönsten jungen Zuckerbäcker und die schönsten Ministranten der Kunstgeschichte mit dem später so bezeichneten „Soutine-Rot“ malte, ließ sich tagelang mit einem Auto durch die Gegend kutschieren, bis er ein passendes Modell gefunden hatte, einmal eine Erstkommunikantin in ihrer vollen weißen Pracht mit einem Kranz gelber Rosen auf dem Haupt, Bäuerinnen bei der Arbeit, Wäscherinnen und Zimmermädchen, Liftboys, Köche und Kellner, Dorfnarren und Idioten, betende Männer und Fürsorgezöglinge, Kinder mit verschmierten Mündern. Einmal wollte er eine Frau portraitieren, die er beim Wäschewaschen entdeckte, als sie gerade vor dem Waschtrog kniete. Soutine stürzte auf sie zu: „Madame, ich habe keinerlei Hintergedanken, verstehen Sie mich, ich bin Maler, ich habe, durch Sie angeregt, ein Bild angefangen und ich muß es zuende bringen.“ Ihr eifersüchtiger Mann, ein Bahnwärter, wollte es verhindern. Soutine drohte dem Mann, daß er ihn gerichtlich belangen werde. Der eingeschüchterte Mann lenkte ein, die Frau kam, und es entstand das legendäre Bild „Liegende Frau“.

Soutine verbrachte auch viel Zeit, ohne zu arbeiten, malte stoßweise, besuchte Museen, las viel und wartete, bis ihm ein Objekt über den Weg lief. Einmal, es war gerade in der Zeit seiner Schaffenspause, ging eine Frau an ihm vorüber, die ein Kind auf ihren Armen trug. Er überwand seine Schüchternheit, folgte ihr und bot ihr Geld an, soviel sie haben wollte, um sie malen zu können. Ein anderes Mal, als er im Freien eine Frau porträtierte, soll er während eines aufkommenden Gewitters weitergemalt, der Frau verboten haben, sich zu rühren, und  hinterher soll er völlig überrascht gewesen sein, als ihm auffiel, daß er und sein Modell bis auf die Haut durchnässt waren. Ein Modell Soutines aus den frühen Pariser Jahren beschrieb den Maler so: „Er wurde krebsrot und riß die Augen weit auf, mit seinen schönen Fingern kraulte er sich den Hals und streichelte sein Gesicht. Mit zusammengebissenen Zähnen stammelte er unverständliche Worte und begann zu malen.“ Einmal verrenkte er sich bei seinem wilden, ekstatischen Malen einen Daumen und konnte sich hinterher nicht erklären, wie es passiert sein konnte. Manchmal wurde er auch ohnmächtig neben einem fertigen Bild gefunden. Wenn er eine Sitzung mit einem Modell beendet hatte, brauchte er jedes Mal mehrere Stunden, um seine Sprache wieder zu finden. Er konnte es nicht ertragen, wenn ihm jemand beim Malen zuschaute. Mlle. Garde, mit der Soutine vier Jahre lang zusammenlebte und die ihn häufig auf seinen Malausflügen in die ländliche Umgebung von Paris begleitete, erzählte: „Er war so unsicher in Bezug auf ein fertiges Bild, daß er so weit ging, mir – wenn wir gerade nicht zusammen waren – einen Brief zu schreiben oder mir zu sagen, daß ich mir die unfertigen Bilder in seinem Atelier, nicht ansehen solle.“ Soutine wollte auch über seine Werke nicht sprechen, gab vor, sich nur schlecht auf Russisch oder Französisch ausdrücken zu können und sagte einmal, um keinem Kommentar über seine eigenen Bilder verlieren zu müssen: „Ich spreche keine Sprache.“

 

7.

Im Jahre 1919 schickte der Kunsthändler Léopold Zborowski den Maler Chaim Soutine nach Céret, in eine Stadt in den französischen Pyrenäen, nahe der spanischen Grenze. Céret galt lange als Malerstadt und wurde als „Mekka des Kubismus“ bezeichnet, da unter anderen auch Picasso und Braque hier lebten und malten. Nach drei Jahren in Céret, eine Zeit, in der Soutine in großer Abgeschiedenheit und Einsamkeit lebte, kehrte er mit 200 neuen Gemälden nach Paris zurück. Der amerikanische Milliardär Albert Barnes, der auf der Suche nach Kunstwerken zeitgenössischer Künstler nach Paris gekommen war, den Kunsthändler Zborowski aufsuchte und in seinem Laden nach Bildern kramte, in der Hoffnung, junge Talente in der Nachfolge der großen Nach-Impressionisten zu finden, interessierte sich für nichts, was ihm Zborowski zeigte und anbot, bis er in einer Ecke eine zerrissene und schmutzige Leinwand von Chaim Soutine entdeckte, den Maler suchen ließ, den man ungewaschen und verwahrlost auf einer Parkbank in Montparnasse fand. Barnes ließ Soutine mit einem Auto abholen, schickte ihn zuallerst einmal ins Bad und zu einem Schneider und richtete ihn in der Folge ein behagliches Atelier ein. Barnes kaufte Soutine sofort über 75 Bilder ab, räumte mit einem Male sein Atelier leer und zahlte die für damalige Verhältnisse fantastische Summe von 60.000 Francs. Mit den Taschen voller Geld eilte Soutine aus seinem Atelier, ging ins Café, betrank sich, bestellte ein Taxi, ließ sich nach Südfrankreich chauffieren und tauchte erst nach einem Monat wieder auf. Soutine war in Paris von heute auf morgen zu einer gefeierten Persönlichkeit und einem begehrten Künstler geworden. Jahre später erzählte Soutine von seiner ersten Begegnung mit Albert Barnes, der als Arzt und Pharmazeut mit der Erfindung des Desinfektionsmittels „Argyrol“ ein Vermögen machte und der ihm zum Ruhm verholfen hatte: „Barnes setzt sich, sah mich an und sagte: ‚Ah! Das ist Soutine. Gut!’ Ein Grobian! Ich werde mir nie verzeihen, daß ich dumm genug war, um mich von diesem Menschen stören zu lassen.“

Als Chaim Soutine, dieser arme Junge aus dem osteuropäischen Ghetto, in Paris wegen seines Magenleidens einen Arzt aufsuchen musste, hatte er außer einem Mantel, den er auch an heißen Sommertagen trug und unter dem er splitternackt war, kein einziges Kleidungsstück. Allein für diesen Arztbesuch musste er einen andern, ebenfalls mittellosen Maler bitten, ihm sein einziges Hemd zu borgen. In seiner Not soll er einmal eine langbeinige Unterhose zu einem Hemd zurechtgeschneidert haben. Im materiellen Wohlstand, den ihm der Kunstsammler Albert Barnes bescherte, kümmerte sich Soutine, der ein misstrauischer Einzelgänger und Melancholiker blieb und auch hochmütig sein konnte, nicht mehr um seine Montparnasse-Freunde, wies sie vor seiner Tür ab, beklagte sich auch über Modigliani, seinem Freund und Förderer, der ihn – Modigliani wusste, daß Soutine magenkrank war – zum Trinken animiert, wodurch sich seine Krankheit noch verschlimmert habe. Aber als er zu finanziellem Wohlstand kam, konnte er sich nicht die Lebensmittel kaufen, die er sich früher nicht leisten konnte, denn jedes Mal, wenn er seine strenge Diät, die aus gedünsteten Tomaten, Suppen und Milch bestand, nicht einhielt, wurde er wieder krank. Wenn in Montparnasse über den berühmt gewordenen Soutine Anekdoten aus seinem Leben erzählte wurden, war auch oft davon die Rede, daß er täglich zahllose Milchkaffees trank, um seine Magenschmerzen zu lindern. Der reichgewordene Soutine lernte Französisch, ließ sich von einem Schneider in der rue Francois Premier blaue Maßanzüge anfertigen, trug mit Vorliebe rote Seidenkrawatten und Halstücher, kaufte sich Unmengen Hüte, spazierte zwischen dem „Le Dome“ und „La Rotonde“, den berühmtesten Cafés von Montparnasse,  dandyhaft hin und her, besuchte leidenschaftlich gerne Box- und Catchkämpfe  und gab hohe Geldsummen für seine unzähligen Taxifahrten durch Paris aus. Einmal lud er einen befreundeten Maler aus seiner La Ruche-Zeit zum Abendessen in einem Restaurant ein, kam aber nicht zum vereinbarten Zeitpunkt. Ein anderes Mal bot er einem ehemaligen Mitschüler an der Kunstakademie in Vilnius an, ihm einen Kunsthändler zu empfehlen, aber auch daraus wurde nichts. Emmanuel Mané-Katz, einen Maler und Illustrator, den Soutine aus Vilnius kannte und den es ebenfalls nach La Ruche verschlagen hatte, erzählte, daß er einmal von Soutine, als er schon berühmt war, in seinem Atelier besucht wurde. Er war elegant gekleidet, trug ein prächtiges Seidenhemd und erzählte beglückt, daß er soeben ein Bild für 10.000 Francs verkaufte habe, gleichzeitig aber seufzte er: „Warum sind sie in Montparnasse nur alle gegen mich!“

Mit der Jüdin Deborah Melnik, einer Malerin und Sängerin, die er aus Vilnius kannte, ließ er sich kirchlich trauen. Als bald darauf eine Tochter namens Aimée geboren wurde, bestritt Soutine die Vaterschaft und verließ Mutter und Kind. Schließlich ließ er sich zwanzig Jahre lang nicht mehr an den vertrauten, alten Plätzen in Montparnasse, rund um die Elendsquartiere von La Ruche, blicken. Von seinem jüdischen Elternhaus und von seiner frühen Kindheit sprach er selten, und wenn überhaupt, dann mit großer Bitterkeit und Verachtung. Einmal erreichte ihn ein Brief seines kranken Vaters aus Russland, der ihn um Geld bat und ihm empfahl, nach zwanzigjähriger Abwesenheit doch wieder einmal das Schtetl von Smilowitchi aufzusuchen. Soutine sagte zur Malerin Marevna: „Dieser Brief hat mich traurig gemacht, Marevna, wirklich! Obwohl er mein Vater ist, kommt er mir wie ein Fremder vor. Er liebte mich nie, glaub mir, und jetzt schreibt er um Hilfe! Ich werde ihm etwas Geld schicken und ihn tun lassen, was er will. Das wird meine Mutter nicht zum Leben erwecken. Aber ich möchte nicht hinfahren, nein, er war zu ungerecht zu mir.“ Nie wieder kehrte Soutine ins Schtetl Smilowitchi zurück. Von seinem Geburtshaus hinterließ er kein einziges Gemälde, keine Portraits oder Bilder aus seinem Elternhaus, weder von Mutter, Vater, noch von seinen Geschwistern, keine Kindheitserinnerungen, auch sind Bilder aus seiner Studienzeit an der Kunstakademie in Wilna, die er als „aufgeblasene Stümpereien“ bezeichnete, nicht erhalten geblieben. Seine Vergangenheit verdrängte Soutine, wo er nur konnte. Nur manchmal, als er La Ruche längst verlassen hatte und in ein anderes Atelier umgezogen war, hörte man auf der Straße seine Stimme mit dem Sprechgesang eines jüdischen Liedes. Seine russische Nationalität gab Soutine nie auf.

 

8.

Die 200 Gemälde, die Soutine nach einem dreijährigen Aufenthalt aus der Pyrenäenstadt Céret  nach Paris mitbrachte und über die er selbstspöttisch sagte, daß er sie mit dem Finger gemalt habe, verachtete er und zerstörte sie bei jeder Gelegenheit, besonders dann als er die Bilder des von ihm hoch verehrten Gustav Courbet im Louvre entdeckt hatte, tauschte bei den Besitzern diese Bilder gegen neue aus oder kaufte sie mit Kunstliebhaberpreisen zurück, setzte zum Erwerb dieser Bilder sogar Strohmänner ein, um an seine Céret-Gemälde heran zu kommen und sie aus der Welt zu schaffen. So war es ihm gelungen ungefähr 70 Bilder zu zerstören, die er in der Pyrenäenstadt gemalt hatte. Der Kunsthändler Michel Georges Michel erzählte, daß er Soutine monatliche Vorschüsse bezahlt, aber zwei Jahre lang keine Bilder dafür gesehen habe, und erst, als er Soutine in seiner Wohnung aufsuchte, deren Fenster, um die Bilder zu schonen, immer geschlossen hielt, habe er etwa 300 aufeinander gestapelte Bilder gefunden. Während Michel außer Haus ging, um Essen zu besorgen, zündete Soutine einen ganzen Stapel Bilder an. Nach lauten Schreiereien und einem wilden Handgemenge konnte Michel noch einige Bilder retten. Sagte jemand ein kritisches Wort zu seinen Gemälden oder verglich jemand Gemälde von ihm mit den Bildern eines anderen, auch großen Malers, bezweifelte der Beschauer also damit Soutines Einzigartigkeit, zerstörte er die Bilder. Er legte die Bilder auf den Boden, betrachtete sie lange, nahm ein Küchenmesser und stach wild drauf drein. Einmal komplimentierte er seine Freundin Mlle. Garde für eine Zeitlang in ein Café, ging in der Zwischenzeit zu einem Händler, nachdem er erfahren hatte, daß er ein Gemälde aus seiner Céret-Zeit erworben hatte, gab ihm ein neues Bild und zerstörte das alte. Als sich einmal ein wohl misstrauisch gewordener Händler weigerte, ihm das verkaufte Porträt von einem kleinen Mädchen zurückzugeben, fügte sich Soutine widerwillig, sagte aber flehentlich: „Bitte, sehen Sie nicht so genau auf ihre Füße. Sie ist sehr arm, und ihre Schuhe müssen geflickt werden!“ Manchmal bestellte er seine Modelle zu zehn, zwanzig Sitzungen und verwarf nicht selten die Studien. In Verzweiflungsanfällen warf er sich aufs Bett und jammerte: „Ich sollte lieber Schuster als Maler sein!“ Damit niemand Zugriff hatte, sperrte er die fertigen Bilder weg. Den Schlüssel trug er immer bei sich. Fragte jemand nach seinen Bildern, hielt er sich verlegen den Mund zu, lächelte und sagte dann: „Reden wir später darüber!“ Seine Gemälde hängte Soutine nie auf. Eine „Zurschaustellung“ der Bilder, wie er es nannte, war ihm zuwider, er wollte zu Lebzeiten keine Ausstellungen.

Eine seiner Gönnerinnen, die reiche Madame Castaing, in deren pompöser Villa auch Erik Satie, Maurice Sachs und Jean Cocteau aus- und eingingen, die lange nach Soutines Zeit in La Ruche und nachdem ihn der Kunstsammler Albert Barnes entdeckt hatte, den inzwischen berühmten, aber lebensfremden Maler bei sich beherbergte und die ihm die allermeisten Bilder abkaufte, berichtete, daß Soutine einmal in großer Aufregung zu ihr und zu ihrem Mann gekommen sei und gesagt habe: „Madame, kommen Sie, ich flehe Sie an, ich habe ein so schönes Pferd gefunden. Ich möchte es malen, niemals wieder finde ich so ein schönes Tier.“ Im Wald, in einer Lichtung, fanden sie eine im Gras sitzende Gauklerfamilie beim Mittagessen. Neben dem Jahrmarktskarren stand das ausgespannte, erschöpfte Pferd, das sich kaum noch auf eigenen Beinen halten konnte, sein Fell war voller Kot, Schwären und Fliegen. Soutine sagte zu Madame Castaing: „Seine Augen sind menschliche Augen, soviel Leid und Erschöpfung drücken sie aus. Es hat nicht mehr die Kraft, sich hinzulegen, und wartet auf den Tod.“ Alle wurden sie zur Villa der Castaings  mitgenommen, das Pferd, der Karren, die Gaukler, die Kinder. Sie blieben drei Tage, und Soutine malte das Pferd. Madame Castaings erzählte auch, daß sie einmal mit ihrer Familie einen Ausflug in den Süden von Frankreich unternommen hatte, Soutine und die Köchin im Haus zurückließ, aber etwas früher, als vereinbart zurückkehrte. Das Haus war leer, ihr Gast war offenbar unterwegs, aber frischer Farbgeruch schlug ihnen beim Übertreten der Türschwelle entgegen. Sie gingen, um ein mögliches Bild zu entdecken, dem Geruch der Farben nach, durchstöberten alle möglichen Verstecke, und ihr kleiner Sohn Michel fand schließlich im Schuppen unter dem Billardtisch ein neues Bild. Am nächsten Tag erschien Soutine, der bereits an den freudigen und entspannten Gesichtern seiner Gastgeber ablesen konnte, daß sie sein neues Bild entdeckt hatten. Am Abend, als sie bereits im Bett waren, hörten sie, daß Soutine die Tür zu seinem Zimmer öffnete und zum Schuppen hinaufstieg. Der misstrauisch und unruhig gewordene Monsieur Castaing lief im Schlafanzug vom Zimmer in den Schuppen und rief verzweifelt auf den ein Messer und eine Flasche Benzin haltenden Maler zu: „Soutine! Hören Sie auf! Das ist ein Meisterwerk! Was Sie da machen, ist ein Verbrechen!“ – „Warum haben Sie es angeschaut, Sie hätten auf mich warten müssen!“ antwortete Soutine. – „Ja, das stimmt, aber wir freuten uns so sehr zu wissen, daß Sie gearbeitet haben. Sehen wir uns doch das Bild gemeinsam an!“ Einen Großteil der Nacht, so berichtete Madame Castaing, hätten sie dann alle voller Glück das neue Bild betrachtet, dem er schließlich den Titel gab: „Frau aus dem Wasser steigend“. Auch Madame Castaing, die mindestens dreißig Gemälde aus seiner Céret-Zeit gekauft hatte, berichtete, daß man, um ein Bild von Soutine kaufen zu können, für ihn erst einmal eine bemalte Leinwand aus dem 17. Jahrhundert auftreiben musste und daß er gleichzeitig, bevor er den Handel einging, ein Ceret-Bild einforderte, um es zerstören zu können. Er schloß sich eine Stunde lang mit dem Bild in sein Zimmer ein, schlitzte mit einem großen Messer das Gemälde auf, zerschnitt es und warf die Fetzen in den Holzofen hinein. Eines Tages rief der Kunsthändler Zborowski Madame Castaing an: „Ich glaube, ich habe etwas für Sie!“ Zborowski kam mit dem Bild in die Villa der Castaings und sagte: „Wissen Sie, das hier ist ein sehr teures Gemälde. Soutine ist sehr anspruchsvoll geworden, seit Albert Barnes so viele Arbeiten von ihm gekauft hat“ und zeigte der Familie das Gemälde von einem Chorknaben in liturgischen Gewändern. Monsieur Castaing zog sofort das Scheckheft heraus und zahlte dafür den geforderten Betrag von 30.000 Francs. Madame Castaing, zu der Soutine Vertrauen gefunden hatte, erzählte er einmal aus seiner Kindheit im Schtetl Smilowitchi, zu einer Zeit, als er noch nicht sprechen konnte. Er lag in einer Wiege und beobachtete voller Bezauberung das Spiel von Licht und Schatten an der Wand. Seine jüdische Religion, erzählte Madame Castaing, mochte Soutine nicht, aber er begleitete sie, als er in ihrer Villa wohnte, jeden Sonntag zur Messe, in die Kathedrale von Chartres, wo er immer hinter einer bestimmten Säule wartete. Er sagte zu ihr, daß es sehr bewegend sei, betende Menschen zu sehen.

 

9.

Soutines Faszination durch vornehmlich blaue Hüte – er hatte unzählige gekauft – ging soweit, daß er diesen Fetisch als lebensrettende Tarnkappe missverstand. Während der deutschen Besatzung in Frankreich sah man den jüdischen Künstler öfter sorglos durch die Straßen von Paris gehen. Als ihn ein Freund vor der Gefahr warnte, erkannt und von den Nazis verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert zu werden, sagte Soutine arglos, daß man ihn gar nicht erkennen könne, da er ja einen neuen blauen Hut trage. Nachdem das Dekret zur Erfassung der Juden erlassen worden war, meldete er sich bei der Behörde. Als er aus dem Amt kam, begegnete er zufällig Chana Orloff, zeigte ihr lachend seine Karte, auf der der Stempel verrutscht war und sagte: „Die haben mir mein JUDE ramponiert.“ Einerseits berichtete Chana Orloff, daß Soutine im Gegensatz zu Marc Chagall, der rechtzeitig auswandern konnte, vergebens versucht hatte, bei der amerikanischen Botschaft eine Einreisebewilligung in die USA zu erhalten, andererseits hieß es, daß Soutine das besetzte Paris gar nicht verlassen wollte, da er befürchtete, in der freien Zone keinen Zugang zu frischer Milch zu haben, die für seine Magendiät notwendig war. Schließlich aber musste der registierte Jude Chaim Soutine außerhalb von Paris außerhalb von Paris in kleinen Ortschaften Zuflucht suchen und immer wieder woanders untertauchen. In dieser Atmosphäre der Spannung, Angst und Nervosität verschlimmerten sich seine Magengeschwüre. Seine frühere Freundin Mlle. Garde wurde in Paris interniert und in das Konzentrationslager Gurs, in den Pyrenäen deportiert. Sie überlebte den Krieg, sah aber Soutine nie wieder. In dieser unruhigen Zeit lernte er Marie-Berthe Aurenche,  die ehemalige Frau von Max Ernst kennen. Obwohl es immer wieder Nachforschungen der Polizei über seinen Aufenthalt gab – ein einflussreicher Dorfbürgermeister konnte eine Zeitlang seine schützende Hand über Soutine halten -, verbrachte er die letzten zwei Jahres seines Lebens mehr oder wenige in Ruhe mit Marie-Berthe Aurenche, ehe er Anfang August 1943 einen schweren Anfall erlitt und sich Marie-Berthe entschloß, den schon fast auf die Knochen abgemagerten Soutine nicht ins nächstgelegene Krankenhaus zu bringen, sondern in die Hauptstadt zu fahren, zum berühmten Arzt Dr. Grosset. Wegen der Gefahr, von den Nazis angehalten zu werden, fuhren sie mit einem Leichenwagen, nahmen aus Sicherheitsgründen mehrere Umwege und kamen erst nach einer vierundzwanzigstündigen Fahrt in Paris an. Doktor Grosset konnte Soutine nicht mehr retten, er erlitt einen Magendurchbruch mit inneren Blutungen. Chaim Soutine starb während der Operation am 9. August 1943. Die Sterbeurkunde war mit dem Stempel versehen: „Connu comme Juif“ – Bekannt als Jude! Sein genaues Geburtsdatum weiß niemand. Vom Verkauf seiner Gemälde konnte Marie-Berthe auf dem Cimetière Montparnasse ein Grab erwerben, wo seine sterbliche Hülle zwei Tage später, unweit vom Grab Baudelaires, beigesetzt wurde. Auf der Grabplatte befindet sich ein großes christliches Kreuz, sein Vorname wurde falsch eingemeißelt, und sein Geburtsjahr stimmt auch nicht. Unter den fünf Begräbnisgästen waren Pablo Picasso, Max Jacob und Jean Cocteau. Zur selben Zeit ereignete sich in seiner Heimat Smilovitchi ein grausamer Genozid, der das Städtchen fast auslöschen sollte. Auch die Eltern und Geschwister von Chaim Soutine haben vermutlich bei diesem Verbrechen der SS-Besatzungsmacht den gewaltsamen Tod gefunden.

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