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de martin / berger: improvisationen

„… Mich interessiert es als Improvisationskünstler, damit zu experimentieren, wie Improvisation im “Logischen” möglich ist. Vielleicht ist es genau das, was hier im Moment stattfindet; dass ich versuche, mit den Komplexen von Wissen, Erfahrung und Instinkten zu improvisieren …“


Maurice de Martin, interviewt von Wilhelm Berger am 27.01.12, Dauer 0:52 Stunden

W.B.: Wir haben auch einen Fragebogen entwickelt, für euch Künstlerinnen und Künstler, und die erste Frage, die wir uns ausgedacht haben für dich: Wenn dich jetzt jemand fragt, was ist dein Beruf, was tust du eigentlich, was antwortest du dann?
M.M.: Ich fühle mich nach wie vor den Künsten zugeordnet, obwohl ich mich in den letzten Jahren immer wieder gefragt habe, ob es nicht langsam Zeit wird, darüber nachzudenken, vielleicht eine neue Definition meiner Tätigkeit zu finden.
W.B.: Das ist genau das Problem, mit dem du ziemlich ringst…
M.M.: Ja, und das ist auch der Grund, warum ich mich den Wissenschaften annähere, als für mich andere große Domäne der Erkenntnis. Dadurch, dass ich schon immer gerne Theorie gelesen habe, lag das einfach nahe, mich da noch weiter reinzuarbeiten und vielleicht auch nicht nur als unter Anführungszeichen Konsument, sondern vielleicht auch als Produzent. Deswegen ist dieser Komplex ganz entscheidend für mich und vielleicht erklärt dies auch, warum ich hier bei dieser Gruppe mit dabei bin: weil genau dieser Austausch für mich die Hoffnung in sich trägt, dass ich in Zukunft auf meine Frage nach einer Transformation der Identität des eigenen Tuns Antworten finde…
W.B.: Wenn dich jetzt irgendwie so ein Kind fragen würde zum Beispiel, was tust du eigentlich, wie würdest du denn jetzt antworten?
M.M.: Dann würde ich sagen: ich mache viele verschiedene Sachen, wechsele dabei permanent meine Tools, aber bei diesem ganzen hin und her des Wechselns und Reformatierens transportiere ich einen einzigen Kern. Dieser Kern nennt sich Improvisation. Einem Erwachsenen würde ich sagen: Mich interessiert es als Improvisationskünstler, damit zu experimentieren, wie Improvisation im “Logischen” möglich ist. Vielleicht ist es genau das, was hier im Moment stattfindet, dass ich versuche, mit den Komplexen von Wissen, Erfahrung und Instinkten zu improvisieren.
W.B.: Aber dieses Wechseln von Tools, also weil das gerade unsere Diskussion ist, das können wir ja durchaus in unser Gespräch aufnehmen, das ist ja sicher auch sagen wir mal schwierig für dich als Künstler, das ist ja, du wirst ja plötzlich, also so wie jetzt die Kontexte in diesen Bereichen sind, wirst du praktisch zum Universalisten, also du sagst, du wechselst zwischen unheimlich vielen Tools, hast du dann, kommst du nicht in diese Schwierigkeit, dass du sagst, dann ist kein Bereich mehr der adäquate oder so oder wie willst du das integrieren, wie willst du das vermitteln?
M.M.: Darüber habe ich mir viele Gedanken gemacht und sehe auch große Gefahren darin, weil ich mir gedacht habe, vielleicht weiß ich dann irgendwann überhaupt nichts mehr und kann auch gar nichts mehr richtig, vielleicht löse ich mich bei diesem Prozess ja selbst auf. Vielleicht ist es ein Prozess der Selbstentfremdung, der da stattfindet aber vielleicht ist das ja alles auch eine Übergangsphase, um entweder wieder zurück zu kehren zu meinem Kern. Aber eben dann von Außen zurückzukehren aus einer Distanz, praktisch als selbstreflektierende Tätigkeit. Oder dieser Prozess führt wo ganz anders hin und funktioniert dann als Filter, und ich weiß jetzt noch gar nicht, was dabei raus kommt. Es ist auf jeden Fall eine aktive Selbstentfremdung, die ich an mir im Selbstversuch jetzt vollziehe in den letzten, ich würde sagen 8 Jahren. Dieses erweiterte Toolwechseln ist erst einmal gar nicht mal so speziell, weil ich gewohnt bin im musikalischen Kontext permanent die Tools zu wechseln, als Multi-Instrumentalist, der auch mit Instrumenten professionell arbeitet, die er gar nicht spielen kann und dabei eine Art des professionellen Dilettantismus kultiviert hat. Das heißt gerade, durch das Arbeiten mit etwas, das ich eigentlich gar nicht richtig kann oder kenne, erzeuge ich Ergebnisse, die ich nicht erzeugen würde, wenn ich dieses Instrument beherrschen würde. Dies ist ein besonderer Fokus meiner Arbeit, mich in der Fremde schnell zurecht zu finden und dabei mit Dingen u. Situationen umzugehen, die ich nicht oder nur oberflächlich kenne. Gerade durch diese Arbeitshaltung erzeuge ich außergewöhnliche Ergebnisse. Für mich ist es dabei interessant, zu schauen, was passiert, (also dass es im Musikalischen funktioniert weiß ich, weil die Ergebnisse zeigen es) mich interessiert aber, was passiert, wenn ich diese Methode übertrage auf ein Feld, das nichts direkt mit der Musik zu tun hat. Genau das war der Grund, warum ich mich entschlossen habe mit knapp 40 Jahren noch einmal zu studieren. Weil ich in den zwei Jahren dieses transdisziplinären Kunst-Masterstudiums an der HKB Bern herausfinden wollte, was passiert, wenn ich meine improvisative Arbeitshaltung aus der Musik in die bildende Kunst transferiere. Aus diesem Kontext heraus hat sich dann wie von selbst ergeben, mit der theoretischen Reflektion meiner Tätigkeit noch einen Schritt weiter zu gehen. Meinend in Richtung professionelle wissenschaftlich orientierte Forschung als Kunststrategie.
W.B.: Also die nächste Frage muss ich jetzt ein bisschen umformulieren, weil ich von dir, von deinen Äußerungen ja weiß, dass deine Arbeit, grad weil du als Musiker arbeitest, viele spielerische Anteile hat, also die Frage wär, was diese spielerischen Anteile sind, aber das könnte man jetzt ein bisschen zuspitzen und fragen: gefährdest du eigentlich durch dieses Verhältnis, in das du jetzt eintrittst, was ein großes Risiko vermutlich auch für einen Künstler ist, nicht auch die spielerischen Anteile deiner Arbeit, deiner Tätigkeit, deiner künstlerischen Tätigkeit, was hast du eigentlich für Strategien, das zu vermeiden?
M.M.: Nein, überhaupt nicht, sondern das ist bereichernd und zwar indirekt bereichernd und deswegen gefährde ich das auch nicht. Wenn es direkt bereichernd wäre, dann wäre es eine Gefahr, weil dann der direkte Einfluss des Logischen zu groß wäre. Aber durch die “natürliche” Struktur dessen, was ich tue, wenn ich “bei mir selbst bin”, also auf meine lebenslange Erfahrung dieses improvisatorisch-musikalischen Handelns zurückgehe, kann ich damit sehr gut umgehen. Dann ist es wirklich sogar Teil des Programms, im richtigen Moment umzuschalten, den Schalter umlegen, in dem Moment, wenn ich auf die Bühne gehe, dann ist immer alles Voerherige weg. Anders kann ich gar nicht musizieren. Dieses Spielen funktioniert nur, wenn ich in dem Moment, wenn ich den ersten Spielgestus tue, den Kopf ausschalte, und da ich dieses Kopfausschalten sehr gut kann, sehe ich da überhaupt keine Gefahr drin. Statt dessen eher eine Bereicherung, weil ich nämlich ganz abgesehen von diesem performativen Teil eine Meta-Reflektionsebene schaffe, die mir hilft, Abstand zu mir selbst zu gewinnen. Dies genau meine ich mit “indirektem Einfluss”. Diese Differenz hatte ich noch nicht, als ich mich nur auf dieses Performative selbst bezogen habe. Diese Situation ist im Gegenteil eine, wo es keine Differenz gibt, eher wie ein Spiegelkabinett, wo Du Dich immer nur selbst betrachtest. Das geht vielen meiner Kollegen gerade in der improvisiterenden Zunft so. Die haben sich selbst ein Denkverbot auferlegt, weil sie sagen, jede Art von Reflektion verfälscht das momentäre Absichtslose als Kern des improvisatorischen Handelns. Ja noch mehr: das Nicht-Logische, Absurde, Absichtslose, nur im Moment Bestehende würde durch jede Art intellektueller Reflektion zerstört. Insofern wollen sie erst gar nicht reflektieren, was zur Auswirkung hat, dass diese Leute eigentlich die ganze Zeit nur das Eine tun, nämlich sich wiederholen ohne dies selbst zu merken. Ich habe diese Falle für mich erkannt, als ich anfing immer wieder das Gleiche auf hohem Niveau zu tun, damit könnte ich mein ganzes Leben sehr gut erfolgreich, erfolgreich unter Anführungszeichen, fortfahren. So könnte ich wunderbar leben, aber ich habe schon vor ca. 10 Jahren gemerkt, dass sich die Sachen anfangen zu wiederholen und genau das, was eigentlich spontan sein soll, momentär und einzigartig, wurde langsam zur sich selbst erzeugenden Routine. Wenn schon das ganze Leben von Routinen bestimmt ist und die Wiederholung beim Älterwerden nicht zu vermeiden ist, dann sollte man wenigsten im künstlerischen Schaffen eine gewisse Hoffnung aufrecht erhalten. Die immer stärker eintretende Desilusion hat mich immer unzufriedener gemacht und dadurch hab ich angefangen mich zu fragen, warum wiederholt es sich überhaupt. Alleine über diese Frage bin ich sofort auf die Theorie gestoßen und das war’s dann eigentlich auch schon. Da war der Stein ins Rollen gebracht und hat mich mitgezogen und deswegen bin ich jetzt da, wo ich bin, als natürliches Resultat dessen, was die Unzufriedenheit über diese beschriebene Repition initiiert hat. Ich kann aber nach wie vor zurück und in dieser spontanen Sphäre der rein musikalischen Improvisation operieren. Das Ausschalten funktioniert ja nach wie vor, aber trotzdem bin ich, dies ist ja so schwer zu artikulieren, ich bin der Alte geblieben, aber ich bin gleichzeitig nicht mehr der Alte. In dem Moment, wo ich auf der Bühne bin und improvisiere, bin ich der Alte, aber in mir drinnen hat sich an der gesamten Haltung etwas radikal verändert. Ich bin eigentlich erst jetzt richtig frei geworden, weil ich durch die Hinwendung zur theoretischen Reflexion nicht mehr Sklave dieses pseudo-Momentären bin, durch meine Distanz dazu schaffe ich es, reflektiert im Momentären zu handeln.
W.B.: Das ist ein interessanter Bereich, aber wie machst du das, wenn du sagst, es gelingt dir das Abschalten, also das ist dir ja total wichtig in deiner Äußerung, du kannst es tun, weil du abschalten kannst und gleichzeitig erzählst du aber davon, dass über dieses Abschalten hinweg irgendwie was sich durch .. subkutan durch die Abschaltung hindurch trotzdem noch weiter wirkt, und dieses, was da weiter wirkt, ist aber nicht schädlich so wie andere Kolleginnen und Kollegen von dir meinen, es ist schädlich, es ist eher produktiv.
M.M.: Es ist unglaublich produktiv, das Reflektieren darüber hat mein Spielen wirklich besser gemacht, obwohl ich drei Jahre praktisch nicht musiziert habe. Meine genuine künstlerische Tätigkeit ist für mich selbst besser geworden in seiner Qualität, oder vielleicht will ich es so ausdrücken, das Arbeiten macht mich zufriedener und ich erkenne es dadurch auch als besser an. Interessanterweise hat dies auch mein professionelles Umfeld, sprich meine Kollegen, das Publikum und die Kritiker bemerkt. Die sagen mir, dass ich immer besser werde und ob ich in letzter Zeit viel gespielt habe, obwohl ich ja eigentlich immer weniger praktiziere. Früher habe ich extrem viel gespielt, weil ich dachte, je mehr ich arbeite am Instrument, mit dem Instrument, desto besser für die Kunst. Irgendwann hab ich mich dann gefragt, warum machst du das denn überhaupt, und vor allem: wer bist du überhaupt ohne das Ganze? Du kennst dich ja gar nicht ohne die Musik und Deine Instrumente. Ich hab irgendwann bei Nietzsche in seiner Morgenröte mal diesen Satz entdeckt: Die Größe eines Menschen – nicht wörtlich wiedergegeben- erkennt man erst dann, wenn er etwas tut, was nicht seinem Talent entspricht. Denn das Talent ist auch ein Putz, hinter dem man sich verstecken kann. Das war für mich wie ein Paukenschlag im Kopf, wirklich durch diesen Satz hab ich den Mut erhalten, zu sagen, ok, ich mach jetzt erst mal einen Sabbatical. Ich lege jetzt das einmal für eine Zeit weg, was ich gedacht habe, dass es meine Identität ausmacht, also mein “Vorgestelltes Ich” und schaue, wer bin ich denn überhaupt ohne das alles. Gibt’s mich dann überhaupt noch? In dieser Zeit, das war vor ca. 5 Jahren, hatte ich einen doppelten Hörsturz und war dann gezwungen aus medizinischen Gründen für ein Jahr die Instrumente aus der Hand zu legen. Es war damals überhaupt nicht sicher, ob ich jemals wieder spielen kann, weil es nicht sicher war, dass dieses Scheppern im Ohr weggeht. Das hat sich wirklich gut getroffen. In dieser Zeit habe ich gezwungenermaßen diese Erfahrung einer “Entfremdung vom angestammten Talent” gemacht. Aus dieser Zeit heraus habe ich diese Tätigkeiten entwickelt, die ich jetzt entfalte und die langsam zusammenwachsen mit dem, was vorher monolithisch da war, ja, und durch dieses neue Wachsen hat sich dieses alte, immer schon da Gewesene transformiert, aber auch verstärkt. Der Einfluss meiner Reflektion über völlig improvisations-performativ-unbelastete Gebiete hat mir geholfen, meine eigene Arbeit im und mit dem Instinktiven u. Unterbewussten zu intensivieren.
W.B.: Also wenn ich das richtig verstehe, auch unsere vorherige Diskussion, es spielt auch eine große Rolle sozusagen zum Beispiel ein Satz, jetzt kann man einen Satz im wissenschaftlichen Sinne deuten, aber man kann einen Satz ja auch anders nehmen, also ich hab zum Beispiel so einen Satz, der mich unheimlich ergreift, und das ist ganz ein banaler Satz vom Martin Heidegger, der heißt: die Sprache spricht, jetzt könnte ich sagen, sozusagen theoretisch könnte ich sagen, das ist eben Heideggers Position gegen die Kommunikation, das ist Heideggers Position gegen die Rhetorik, das könnte ich alles ableiten, aber aber es ist für mich so, dass dieser Satz, also nur der Satz selber, der erzeugt in mir etwas, und du hast ja zum Beispiel Nietzsche genannt, also arbeitest du jetzt auch in deiner Annäherung an Theorie mit solchen Sätzen oder könntest du so Sätze, oder hast du so Sätze, die eben sowas transportieren, wo man nicht genau sagen kann, was es ist, aber es sind sozusagen “große Sätze” was wir vorhin eben diskutiert haben, ist das so eine Methode auch für dich?
M.M.: Auf jeden Fall. Wenn ich jetzt gerade überlege, was da in meiner Arbeit fürs Theater immer wieder passiert, da war ich ja eigentlich lange Zeit lang hauptsächlich eingeladen als Komponist das rein Musikalische zu gestalten. Was dabei immer fast automatisch passiert ist, war dieser Übergriff auf das Strukturelle im Theatergeschehen und zwar v.a. in den Text hinein oder ins Szenische. Das hat dann immer stattgefunden, wenn ich irgendwas gesehen habe, was während der Probe auf der Bühne passiert, und dann kam mir ein bestimmter Satz -u.a. auch aus der Philosophie in den Sinn, den ich dann in den Probenprozess reingeworfen habe, und dann hat sich plötzlich das ganze Stück auf Grund dieser Intervention in eine ganz andere Richtung weiter entwickelt. Regissuere nennen diese Taktik gerne abwertend “Guerilla-Regie”. Das ist dann so, als ob ein Satz in dem Moment viel mehr Information in sich trägt, als man sie in ihrer Fülle überhaupt jemals vollens realisieren kann. Wie du sagst, die Sprache spricht, sie steht im Raum und es hilft vielleicht sogar, gar nicht alles darüber wissen zu wollen, um sich dann diese Freiheit drum herum zu lassen, danach wieder so weiter zu arbeiten, wie man es geplant hat.
W.B.: In dem Kontext würde auch die Frage irgendwie naheliegen, deine Tätigkeit, so wie du sie geschildert hast, ist ja eine unter anderen, also wenn man zum Beispiel Theater nimmt oder wenn man so Produkte, ein künstlerisches Produkt erzeugt, wie du es jetzt mit der Janina machst oder wenn du eben musizierst mit anderen, welche Rolle, welche positive Rolle spielt für deine Arbeit die Einsamkeit, das Alleinesein, also das Gegenteil von diesem Gemeinsamen?
M.M.: Da kann ich etwas sehr Interessantes dazu sagen: Ich bin nämlich der Ansicht oder schon fast der Überzeugung, dass man es kultivieren muss, in der Gruppe alleine sein zu können. Ja, und zwar ganz konkret in dem, was ich am besten kann, das Improvisieren auf der Bühne mit anderen zusammen in der Gruppe. Dort gibt es eine Regel, dass man nicht mit anderen bewusst kommuniziert, während jemand spielt, musikalisch, nicht verbal, das ist wirklich eine Regel unter vielen Improvisatoren. Das sind Leute, die sich teilweise erst 15 min vor dem Konzert treffen, sie kennen sich teilweise überhaupt nicht und gehen dann als Gruppe auf die Bühne und spielen ein Zweistunden-Konzert. Sie haben sich nicht vorher ausgetauscht, was sie machen wollen und kommunizieren auch musikalisch während dem sie spielen miteinander nicht bewusst und genau deswegen ist das Ergebnis gut. Und je weniger sie dabei bewusst kommunizieren, je mehr sie einsam bei sich selbst bleiben -das hat dann teilweise schon fast etwas Autistisches, in den intensivsten Momenten ist es dann so, dass man eigentlich überhaupt nicht mitbekommt, was außen passiert. Man hört gar nicht mehr, was die Kollegen spielen, man will das auch gar nicht hören, man ist nur bei sich selbst und in seinem Tun. Wenn man das schafft, verbindet es sich am besten mit dem Spiel der Anderen. Das geht aber nur, wenn man gleichzeitig einsam und in der Gruppe ist. All dies spricht ja schon ein wenig gegen die Kommunikation als Interaktionsmittel, was ja sonst immer so aufgeblasen wird. Das Gleiche beobachte ich auch in ganz anderen Konstellationen, zum Beispiel auch im Kontext meiner Arbeit mit Nina. Auch da funktionieren wir dann am besten, wenn wir zwar einerseits zusammen sind, und zwar räumlich körperlich zusammen, aber gleichzeitig jeder von uns geistig seinen eigenen Weg geht, und zwar möglichst ohne Einfluß des anderen. Dann kommen die stärksten Ergebnisse heraus. Ich weiß nicht, ob man das wirklich Einsamkeit nennen kann, ich nenns jetzt aber erst einmal Einsamkeit, weil ich es manchmal auch wirklich als Einsamkeit empfinde. Aber es ist eine angenehme Einsamkeit. Ein Zustand bewusster und selbstgewählter Einsamkeit, eine Abtrennung von der Kommunikation mit einem Partner oder von einer Umwelt, aber du bist trotzdem gleichzeitig in der Gemeinschaft drin.
W.B.: Man fühlt sich ja oft dann auch gefährdet, wenn man nicht einsam ist oder, man wird angegriffen, man ist in verschiedenen Kontexten, wo andere ganz was anderes verstehen oder was anderes erwarten, manche denk ich mir müssen sich ja richtig schützen, also ich interpretiere zum Beispiel wie beim Joseph, dass der, um literarisch produktiv zu sein, einen gewissen Schutzraum braucht oder sagen wir so eine Form von Asozialität fast.
M.M.: Mhm, was dann in dem Moment gesellschaftlich sogar gefordert ist, diese Asozialität, die sonst als verwerflich gilt. Das ist das Privileg des Künstlers. Weil sich diese Person um Großes zu produzieren in die Einsamkeit zurückziehen muss, also praktisch sich abwenden muss von der Gesellschaft, wird diese Abwendung von der Gesellschaft sogar gefeiert, wenn dabei etwas für sie rüberkommt.
W.B.: Aber das ist bei dir weniger, aber doch hat das eine große Bedeutung. Es ist einsam unter anderen gleichzeitig (M.M.: genau gleichzeitig unter anderen) dieser extreme Wiederspruch.
M.M.: Das ist doch eigentlich völlig realitätsnah. Es die alltägliche Situation, wenn du in einer vollen U-bahn stehst, es ist diese anonyme ad-hoc-Gemeinschaft, die sich auch sofort wieder auflöst, und du stehst doch eigentlich immer alleine da, die anderen sind da, aber sie sind gleichzeitig nicht da, und sie sind nur in diesem einen Moment da. Wenn in solcherart Situation da eine bewusste kommunikative Zuwendung passiert, wird dies meist als Irritation empfunden, ja sogar als unerlaubte Übertretung wahrgenommen. Interessanterweise ist es in der Musik genauso, dass dieses bewusste kommunikative Zuwenden des Einen zum Anderen erher unerwünscht ist, auf jeden Fall bei den Profis, weil es den natürlichen Fluss in der Musik stört. Ja, das ist eher ein Anfängerfehler, wenn Musiker anfangen zu improvisieren, vor allem klassische Instrumentalisten, dann denken sie immer es ist eine dialogische Kommunikation, die da stattfindet. Dann spielt der Eine eine bestimmte Geste und der Andere muss dann mit einer komplementären Geste antworten, oder er denkt, man muss sich auf jeden Fall irgendwie bewusst in Bezug setzen dazu, was der andere macht. Hüh und Hot. Das Ergebnis ist dann natürlich meistens totaler Schrott. So geht das nicht in die Tiefe, es geht aber immer dann in die Tiefe, wenn man bewusst zum kurzzeitigen Autist wird. Es ist also eine Art des bewusst Unbewusst sein und ganz nahe an der universalen Einsamkeit.
W.B.: Aber du hast dennoch sowas notwendig wie Realität oder, also was spielt, also ich erleb dich jetzt so in dem was du sagst als relativ gegenläufig, also auf der einen Seite ist es dieses was du als Autismus bezeichnest, und auf der anderen Seite kenn ich dich jetzt in unserem Kontext als Künstler, der sich ganz stark einer ganz bestimmten Realität wie zum Beispiel dieser unocity zuwendet, jetzt wär irgendwie eine Frage, in welcher weise brauchst du auch in der Musik Realität, also Realität so verstanden wie eben die unocity eine Realität ist, die so auf dich einwirkt und aus dir etwas macht, aus der du was machen willst, brauchst du das in der Musik gar nicht? Es hätte auch ein bisschen was mit dieser Frage zu tun, was wir vorhin besprochen haben, als du gesagt hast, da war ein bestimmter Punkt in deiner musikalischen Entwicklung, wo du nicht mehr weiter gekommen bist, und dann hast du was anderes reingeholt, eigentlich Realität, Bücher, Theorien, Offenheit, du brauchst aber dann offensichtlich auch für deine musikalische Entwicklung Realität in einem spezifischem Sinne.
M.M.: Ja, diese gewisse Realität brauch ich und zwar ganz konkret, und sie sieht folgendermaßen aus: diese Realität ist bestimmt von einigen Konditionen, die es überhaupt erst ermöglichen, dass ich so agieren kann. Diese Konditionen sind extrem sensibel, fragil und situationsbezogen. Man kann dabei keine Kontextschablone konstruieren und die mit sich herrumschleppen, dann funktioniert nichts mehr. Die Vorbereitung zum Improvisieren ist zum Beispiel eine Realität, die eine große Rolle spielt, dass man überhaupt fähig ist, in das beschriebene Stadium einzutreten. Diese Realität sieht vielleicht folgendermaßen aus: Zuerst einmal ist es wichtig, dass man im Vorfeld eine Atmosphäre kreiert, die ein gewisses menschliches Vertrauen zum Gegenüber impliziert. Das ist die absolute Voraussetzung. Dies passiert eben nicht, indem man miteinander über das spricht, was man gleich zusammen auf der Bühne tun könnte, dies würde genau das Gegenteil erzeugen. Sondern es ist ein legeres, fast wortloses Sich-Miteinander-Verhalten, fast wie in der U-Bahn, und zwar am besten so tun, als ob gar nichts anstände. Man geht dabei also quasi alltäglich miteinander um und entwickelt dadurch zueinander eine bestimmte Energie. Bos keine großen Gesten. Dies ist für mich die Grundvoraussetzung, dass man dann auf der Bühne als Musikergruppe miteinander große Kunst erschaffen kann. Die Realität der Realität ist, dass man primär als Mensch, nicht als Künstler oder als Kollege eine Beziehung entwickelt, wie man sie auch entwickeln würde, wenn man jetzt nicht gleich zusammen spielen würde. Das ist für mich das Geheimnis der direkten Vorbereitung zur Improvisation. Aber um das zu erreichen, muss man extrem viel Erfahrung mitbringen. Das ist auch Teil dieser Kunst, deswegen ist es so wichtig, dass das Team, mit dem man arbeitet, sehr bewusst ausgewählt ist. Dies ist meine Art zu arbeiten. Es gibt natürlich auch andere Improvisatoren, denen ist das alles scheißegal, die gehen auf die Bühne und machen ihr Ding, egal wo und wie. Wer da um sie herum ist, interessiert sie nicht. Aber für mich ist das eben ganz anders, ich bin da unglaublich sensibel.
W.B.: Und wie findest du solche Menschen, oder kommen die zu dir?
M.M.: Es ist zum Beispiel jetzt vor zwei Monaten etwas passiert, da hatte ich diese Tour hatte mit diesem neuen Projekt “Ultra Modern Jazz Quartet”. Dieses Projekt besteht aus Leuten, die ich alle schon ganz lange kenne, teilweise sogar schon aus meinen New Yorker Zeiten, und da war ich gerade mal 20. Das sind Menschen, die in dieser Konstellation noch nie zusammen gespielt haben. Mit dem Bassisten, Peter Herbert, habe ich das letzte Mal 1991 in New York City zusammengespielt und seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. Vor zwei Monaten haben wir uns dann direkt vor dem Konzert getroffen, haben 5 Sätze gewechselt und 10 min später gemeinsam auf der Bühne gestanden. Es war wie 1991 und gleichzeitig etwas total Neues. Das haben wir beide danach gesagt und das zeigt Dir, dass da ganz besondere Verbindungen zwischen uns wirken. Das passiert so intensiv eher selten und es gibt deshalb auch nur eine recht begrenzte Anzahl von Musikern, auf die ich bis jetzt treffen durfte, mit denen sich so etwas wie mit Peter ergeben hat. Ich kann nicht sagen, wie ich zu ihnen komme, eher kommen wir als Einzelne aufeinander zu. Man kommt irgendwo und irgenwann zusammen und man weiß recht bald, dass die Voraussetzungen zum Zusammenspiel gegeben sind. Was uns dann ganz plötzlich verbindet, basiert auf einem gewissen für mich nicht näher artikulierbaren Verständnis der individuellen Instinkte, was im folgenden ein fast blindes Vertrauen zueinaner generiert. Dieses Vertrauen, dass es in so einer Situation miteinander funktioniert, muss man überhaupt nicht detailliert ausformuleirt haben. Das stört eher. Sozusagen eine Art Informationsübermittlung jenseits der verbalen Kommunikation, aufbauend auf Instinkt, Wissen und Erfahrung.
W.B.: Wenn ihr jetzt sowas zustande bringt und das ist quasi ein Glücksfall oder Zufall, ein Geschehen, das man nicht genauer erklären kann offensichtlich, oder sicher auch nicht psychologisch erforschen kann, dann machts ihr praktisch eine Aufführung oder ihr tretets auf, und es ist aber nicht wies so in diesem schönen Titel dieser Musikuniversitäten oft heißt: University of performing arts oder so, es ist ja nicht nur dass etwas aufgeführt wird, sondern es hat irgendwie doch auch was zu tun mit etwas Neuem, mit einer Erkenntnis oder so, kann man das so sehen, ist deine Improvisation auch Erkenntnis, ohne das wir das Wort jetzt irgendwie definieren müssen?
M.M.: Die Aufführung ist ja nur das äußere Erscheinungsbild dessen, was es eigentlich ist: das ist ein Ritual einer flüchtigen gemeinsamen Identität. Dieses Ritual ist in unserem Falle ganz einfach inszeniert: Du hast eine Bühne und auf dieser Bühne wird das Ritual performt. Dann gibt es da eine Gruppe von Menschen, die daran teilnimmt, indem sie zuschaut und signalisiert, was sie von der Sache hält. Insofern passiert da dann auch wieder so eine Metakommunikation, die für uns ganz wichtig ist. Es ist die Energie, die sich da wie im Tischtennisspiel von der Bühne weg und zur Bühne hin ausbreitet, und da passiert jedes mal eine neue Erkenntnis. Das ist der Grund, warum wir dieses Ritual lieber in der Öffentlichkeit als im Privaten aufführen. Im Privaten passiert diese Erkenntnis oft nicht, sie passiert aber meist dann, wenn wir dieses Ritual in diesen öffentlichen Raum reinstellen und dadurch, dass es in einem bestimmten öffentlichen Raum ist, der immer einmalig ist, weil es ist ein einmaliger räumlicher Raum als auch ein einmalig sozialer Raum in einem einmaligen Moment in der Zeit ist. Da passiert immer etwas Neues, obwohl es eigentlich immer das Gleiche ist, weil das Ritual ist ja auch extrem kodifiziert. Wir haben die Konditionen genau definiert, wir wissen ganz genau, was wir tun müssen, damit wir diese Situation herstellen können und trotzdem entsteht dabei immer etwas Neues, Unerwartetes. Diese Erkenntnis über das Unerwartete wird aber leider selten intellektuell reflektiert oder weiter-verwertet, recycelt. Manche schreiben sich das auch als nachträgliche “Hilfspartituren” auf, die sie aus der Audio-Aufnahme des Geschehens generieren. Aber diese flüchtige Erkenntnis kann doch eigentlich lediglich treffend nur in der Erinnerung festgehalten werden oder eben dokumentiert durch eine Aufnahme. Das ist der Grund, warum die Improvisatoren so viele CDs veröffentlichen, weil das ist ihre Art der Vermittlung ihrer Erkenntnis, auch wenn sie das nicht zugeben wollen.
W.B.: Jetzt wär für mich die Frage, was ja für unsere Diskussion sehr interessant ist, also da entsteht etwas, aber ließ es sich, das was wir als Erkenntnis umschrieben haben, das muss man nicht definieren, lässt sich das auch in andere Formen übersetzen, also du erzählsts mir jetzt, ich kann das total gut nachvollziehen, ich kanns verbal nachvollziehen, aber sind diese Produkte, die du, sind die strikt eigentlich auf das beschränkt, beschränkt jetzt unter Anführungszeichen, auf diese Produktionsform, oder ließen sie sich auch in andere Kontexte übersetzen, also im Sinne dass sie vom einen ins andere über-setzen, also so wie man einen Fluß übersetzt, und im anderen dann auch so eine Erkenntnis, siehst du da in deiner Form der künstlerischen Produktivität so eine Übersetzungskomponente?
M.M.: Ja, das ist genau das, was ich seit ein paar Jahren versuche, weil mich genau das interessiert: ob und wenn ja, wie sich das musikalische Improvisieren als Prinzip auf andere Sphären übersetzen lässt. Im Scheitern wie im Gelingen ist es für mich eine Erkenntnis, die dann letztendlich das wieder bereichert, was ich von Natur aus als Musiker mache. Und es geht! Um von der eigenen Erfahrung zu sprechen: schau mal, ich bin auf dem Feld der Videokunst unterwegs, ich arbeite im Theater, ich mach Installationen, ich arbeite im Artistic Research, auch als transdisziplinärer Dozent, der ich die letzten 3 Jahre an der Hochschule der Künste in Bern war, und dort diese kontrastreichen Unterrichtsformate entwickelt habe, bei denen ich mit Psychologen zusammengearbeitet habe, mit, Neuroästhetikern, Tanzperformern etc. Das genau beschreibt diesen Versuch der Übertragung. Ich merke, wie es manchmal geht und manchmal auch nicht, und die Erkenntnis, die ich daraus immer wieder vom Neuen gewinne, ist extrem vielfältig. Es kann unter Umständen auch ein Erkenntnisgewinn sein, der unangenehm ist, weil man eben immer mit Situationen des potentiellen Scheiterns konfrontiert ist. Weil Formate sich als nicht kompatibel erweisen. Da muss man dann drei mal mit der Kirche ums Kreuz, bis man dann beim vierten Mal merkt, was man aufgeben muss, um das zu erreichen, was man sich eigentlich erhoffte. Es sind wirkliche Kämpfe, die da ausgestanden werden und das ist nicht immer angenehm. Genau wie wir es immer wieder in unserer Gruppe erleben müssen. Für mich sind gerade solche Momente reich an Erkenntnis. Diese Operationen am offenen Herzen sind für mich aber auch super anstrengend, weils bei Euch eben doch ganz anders als in der Musik zugeht. Nach jedem Workshop bin ich erst einmal erschlagen.
W.B.: Ich hab jetzt das auch so in deiner künstlerischen Produktion, in deiner musikalischen Produktion so verstanden, du bist gewissermaßen bereit für den gelingenden Augenblick, wenn ich das jetzt so für mich übersetzten will, also du hast zuerst gesagt, wenn man so ein Improvisationskünstler ist, zunächst beginnt man total zu üben, damit man dann im richtigen Augenblick das bringt, aber gibts bei dir dann auch so gewissermaßen Ideen, die langsam entstehen, also die nicht im Augenblick überraschenderweise entstehen, sondern die in dir musikalisch gesehen jetzt so langsam Gestalt annehmen, und die du dann irgendwie umsetzen willst, oder ist das wirklich diese Situation, also ich bin jetzt kein Spezialist für improvisationskunst, also die nur in dieser Situation entsteht, oder wuchert bei dir vorher schon so ein Ideenwust heran?
M.M.: Das muss so sein. Es ist nur so, dass dieser Ideenwust, der da vorher entsteht, ja dass dieser in dem Moment, wo es dann passiert, radikal abgekappt wird. Was dann oft, wenn man in diesem Prozeß steckt, bevor man überhaupt begreift, was was da konkret rauskommen wird, dazu führt, dass man erst einmal enttäuscht ist, weil man sich wochenlang vorbereitet hat auf eine Konstellation, die da kommen möge, und sich Gedanken macht, wie wird das Setup sein, bis ins Detail. Ich hab sogar schon musikalische Choreographiepartituren geschrieben und zwar wirklich minutiös, also mit Stoppuhr, die festhielten, was ich machen möchte, wenn es passiert. Und das ist dann nie passiert, ja es ist oft gar nichts von dem passiert, was ich geplant habe. Das war für mich oft eine herbe Enttäuschung, weil ich gedacht hab, ich hab ja gar nichts von dem umgesetzt, was ich mir vorgenommen hab, bis ich irgendwann begriffen habe: es ist völlig egal, ja: das muß so sein. Es geht nämlich nicht um die Verwirklichung eines Plans. Dagegen ist es die Tatsache der vorbereitenden Energie, die sich in einem Plan oder einer Partitur manifestiert, die dann als Teil der Handlung umgeworfen werden MUSS. Wenn ich mir vorher diese Ideen nicht erarbeitet hätte wäre ich nicht fähig gewesen, sie im folgenden wegzuschmeißen, und durch gerade diesen Akt des Wegschmeißens genau das zu generieren, was ich generiere. Transformation. Das ist eine ganz komische Sache, das ist oft völlig absurd. Zum Beispiel bei Peter Brook, der hat das “the formless hunch” genannt, die formlose Vorahnung. Man arbeitet in der Probenphase mit einem Wust von Ideen, man verfolgt die, man baut sie auf, man verbindet sie, man lässt sie sich gegenseitig zerstören, man filtert sie. Das ist völlig frei, folgt aber gleichzeitig einer Art imaginär-generellen Plan. Letztendlich erschafft man während der Probenzeit ein Konzept, von dem man glaubt, dass man es umsetzt. Zum Schluss aber dann -und das hab ich unglaublich oft erlebt im Theater- dann wenn es in die Endprobenzeit geht, muss man dann alles völlig anders machen. Das erzeugt bei den Schauspielern mitunter eine große Angst und Frustration. Weil die lernen ja ihre Texte, und dann müssen die plötzlich wieder neue Texte lernen, und dann wird alles noch hektischer. Gerade aber durch diese Spannung der Inkonsequenz entsteht letztendlich genau dieses Stück, was da vielleicht vorher schon verborgen war. Aber wenn man konsequent gewesen wäre und hätte seinen Plan durchgezogen, dann wäre man nie dort angekommen, wo man letztendlich hat ankommen müssen.
W.B.: Aber es ist trotzdem eine sehr ausgesetzte Situation, also zum Beispiel in so eine Situation reinzugehen, wo viele dich anschauen und dir zuhören, das gibt ja totale Sicherheit, wenn man sowas hat, also mir ist zum Beispiel mal passiert im Vortrag, den ich vor den meisten Menschen gehalten hab in meinem ganzen Leben, das war wie ich kurz Gastprofessor in Shen Yang an einer chinesischen Universität war, da hats so eine Festveranstaltung gegeben, da musste ich so einen Vortrag halten übers österreichisches Bildungssystem, und die Dolmetscherin hat mir mein Manuskript weggenommen, um mir das zu übersetzen, und die kam nicht zurück, und da waren 1000 Leute, und da hab ich wirklich Angst gehabt, im letzten Moment hat sies mir dann gebracht, aber ich hätte mich fast angeschissen, aber das bringt mich auf dieses Thema, diese ausgesetzte Situation, die hat ja viel mit Angst zu tun auch oder, nicht nur im negativen Sinne, also hast du Angst und wenn du Angst hast, scheiterst du oft an deiner Angst oder wie kannst du dann diese Angst wiederum produktiv wenden?
M.M.: Das ist super interessant, genau dieser Moment des Gesprächs. Bei mir verhält es sich genau konträr zu dir, ich hab nur Angst, wenn ich etwas reproduzieren muß. Wenn ich etwas detailliert vorbereitet habe, was ich dann auch genauso reproduzieren muß, dann hab ich Angst, weil ich immer scheitere an der Reproduktion meiner Vision. Deswegen ist das, was ich mache, für mich perfekt, weil in dem Moment, wenn ich völlig frei bin und mit nichts da stehe, dann agiere ich am besten. (W.B.: Dann musst du dich ja sehr gut auf dich selbst verlassen können.) Das ist verrückt, es war immer schon so, wenn Leute von mir erwartet haben, dass ich etwas nochmal machen soll oder etwas realisieren, was akribisch geplant war, bin ich immer daran gescheitert. Das war mitunter auch peinlich und schmerzvoll. In dem Moment, wo man mir den Freiraum gegeben hat und gesagt hat, mir reicht es, dass Du Du selbst bist, Du brauchst überhaupt nichts anderes, sei einfach nur Du, dann bin ich bei mir, dann funktioniere ich und dann bin ich richtig gut. Deswegen ist dieses Erlebnis in unserer Gruppe heute für mich auch so interessant, weil da ist nämlich genau dieses Scheitern passiert, das ich an etwas, was ich vorbereitet habe, was ich so bewusst mir als Form geschaffen habe, die ich heute reproduzieren wollte, gescheitert bin. Wenn ich aber den Mut gehabt hätte und mich rückbezogen hätte auf mein Wissen, auf meine Expertise, dann hätte ich diese Power point-Präsentation überhaupt nicht aufmachen müssen. Sondern hätte das, an was ich mich erinnere aus dieser PowerPointpräsentation frei vorgetragen und zwar aus mir selbst raus.
W.B.: Also siehst du die Angst eigentlich nur negativ, oder siehst du das für dich als ein Produktionsmittel gewissermaßen, es gibt ja Leute, die steigern sich in enorme Angst rein und dann sobald der Vorhang auf geht, ist das weg, das hört man doch öfter?
M.M.: Das ist witzig, gerade im letzen Semester hatten wir ein Projekt an der Hochschule, wo ich mit den Bachelorstudenten aus den verschiedenen Kunstbereichen gearbeitet hab ein Semester lang, und das Projekt hieß Angst als produktive Kraft im kreativen Prozess, und da haben wir intensiv darüber diskutiert, was diese Angst im kreativen Prozess bedeutet.
W.B.: was ist es bei dir?
M.M.: Für mich ist diese Angst lähmend in dem Moment, wenn ich vor meinem eigenen Tun Angst habe, dann entzieht das meiner Handlung unglaublich viel Energie, und dann kann ich nur einen Bruchteil von dem machen, was ich eigentlich machen könnte. Aber regelmäßig entsteht durch diese Erfahrung eine Erkenntnis, die mich im Folgenden viel weiter bringt, als wenn ich keine Angst gehabt hätte. Es ist praktisch ein doppelter Prozess, nur dieser Prozess ist in dem Moment, wo die Angst existiert, natürlich völlig egal. Da nehme ich es vor allem als Scheitern wahr und da ist die Angst für mich primär negativ, aber aus dieser Negativität lerne ich immer wieder unglaublich viel.
W.B.: Aber du hast nie so wirklich radikale Angstkrisen in diesem Sinn gehabt in deiner Tätigkeit als Künstler, die dich gelähmt hätten, oder wo du nicht weiter gekommen wärst, oder es kann ja passieren, dass, einmal passiert einem irgendwas Blödes bei einem Konzert, man “scheitert” und dann wieder und dann steigert sich das, ist dir noch nie passiert?
M.M.: Ich glaube, das ist deswegen für mich nicht so tragisch, also ich nehme es wenigstens als nicht so radikal wahr, weil ich es eigentlich bis vor ein paar Jahren gar nicht anders kannte. Von ganz früher Zeit an war dies eigentlich Normalsituation, dass ich permanent auf die Finger bekommen habe für das, was ich machen wollte, und zwar oft auch deswegen, weil ich mich etwas bemächtigt habe, was ich “nicht hätte dürfen”, sprich was meine momentanen Kompetenzen -noch- überfordert hat.
Z.B. auf meiner ersten Jam Session in New York City 1990, da bin ich rübergekommen mit dem Bewußtsein, dass ich schon ein recht guter Musiker bin, weil ich in frühen Jahren schon respektablen Erfolg hatte in Deutschland. In jungen Jahren ist man mitunter nicht nur mutig, sondern auch sehr naiv und man denkt, man ist schon jemand. Mit diesem Bewusstsein bin ich nach New York gegangen. Mein Plan war: ich bin jetzt zwei Jahre hier und währendem werde ich zu einem weltberühmten Schlagzeuger. Mit breiter Brust bin ich auf diese Jam Session in Brooklyn gegangen, und dort waren nur afroamerikanische Bebopmusiker von der ersten Garde. Das war mir aber total egal, ich bin da rein und hab gesagt ich spiele den nächsten Tune, also ich setz mich da ans Schlagzeug, und die haben mich angeschaut als ob ich vom Mars komme. Aber sie haben mich hingelassen und dann haben die eingezählt, und wie die das so gerne machen, wollen sie mir einen Denkzettel verpassen. Sie haben ein schweres Stück in unglaublich schneller Geschwindigkeit eingezählt, plötzlich musste ich spielen wie ein Aufziehhase. Da ich natürlich nicht ihre Kondition und Fähigkeiten hatte, sind mir nach zwei Minuten fast meine Hände abgefallen. Die spielen ihre Stücke aber gerne eine halbe Stunde und ich hab gemerkt, wie alles in mir heiß wird, die Stöcke rutschen mir bald aus der Hand raus, und ich kam dem Kollaps näher. Dann irgendwann ist der Hausschlagzeuger -Clifford Barbaro- auf die Bühne gekommen und hat mir erst auf der rechten Seite das Ridebecken abgebaut, mit dem man ganz wichtig im Jazz diesen Puls spielt, diesen Swingpuls. Dann musste ich auf der linken Seite auf dem Crash spielen, dann hat er das auch abgebaut und dann ging es auf der Hi-Hat weiter. Dann hat er auch die Hi-Hat abgebaut. Das war der Moment, an dem man mich zum Aufgeben gezwungen hatte, und zwar mitten im Stück. Wegen mir ist die ganze Jam Session zusammengebrochen. Es standen alle um mich herum, diese heavy Kerle und haben mich angeschaut, als ob sie mich umbringen wollen und ich bin mit eingezogenem Schwanz von der Bühne gekrochen. An der Bar, da stand der Hausschlagzeuger, den habe ich gefragt: “hey man why did you do that?”. Da ist dieser Typ aufgesprungen, ist zu mir hin, hat mich wirklich wörtlich am Schlafittchen gepackt und hat mich so zu sich herangezogen, dass wir wirklich Nase an Nase, Auge an Auge standen. Er sagte dann ganz leise: „You stupid little white motherfucker, if you come here one more time and play our music without knowing it, I will kill u and now go home and practice.” Nach einer kleinen Pause meinte er dann noch: “If u want I‘ll be your teacher, its 20 dollars an hour“ (lacht). Der hat sein Geschäft als mein erster und vielleicht wichtigster Lehrer in NYC gemacht.
Auf dem Weg nach Hause wusste ich dies aber noch nicht, statt dessen hatte ich mich dazu entschlossen gesagt, mit der Musik aufzuhören, vorbei, ich werd nie mehr wieder Musik machen. Das war so ein Schlag auf die Eier, ich bin der totale Versager, ich hab sowas von versagt, das hol ich nie mehr auf, ich bin weg.
Und NUR dadurch hab ich erfahren, dass ich wirklich Musiker bin. Die totale Verzweiflung war dabei notwendige Voraussetzung. Genau da hat meine Arbeit als Musiker und Improvisator eigentlich erst angefangen und zwar ernsthaft durch diese Watsche. Das hat unglaubliche Angst erzeugt, ich hab da Jahre gebraucht mich rauszuarbeiten, und jedesmal, wenn ich auf die Bühne kam und irgendwelche guten Kollegen im Publikum waren, hatte ich regelmäßig panische Angst, dass mir wieder das gleiche passiert, dass danach jemand sagen wird, du bist ein Versager. Und ich glaube, genau durch diesen Prozess des Abarbeitens an diesem Komplex bin ich letztendlich wirklich Musiker geworden. Inzwischen ist es einfach so, dass ich völlig in mir selbst ruhe, ich mach mein Ding und ruhe in mir.
W.B.: Das ist eine total schöne Geschichte, um das Interview zu beenden.